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Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Titel: Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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heiß! Geh doch noch mal hoch und zieh dich um!«
Sie erblickte Jessica. »Hallo, Jessica. Ich hatte dich schon gesucht. Möchtest du nicht mitkommen? Wir begleiten Diane und Sophie zum Reiten!«
    Die beiden Mädchen kicherten albern. Sie waren zwölf und zehn Jahre alt, und eigentlich kicherten sie ständig. Ihre perfekte Mutter hatte sie selbstverständlich perfekt ausstaffiert: Die beigefarbenen Reithosen saßen wie eine zweite Haut, die schwarzen Stiefel glänzten, die Blusen waren von blütenweißer Reinheit. Diane, die Ältere, hatte sich einen lässig zusammengeknoteten Pullover um die Schultern gehängt und ihre Haare aufgesteckt. Wie ihre jüngere Schwester strahlte auch sie die satte Selbstverständlichkeit eines verwöhnten und in besten finanziellen Verhältnissen aufwachsenden Kindes aus.
    »Ich gehe lieber spazieren«, sagte Jessica, schuldbewußt, weil Alexander sie am Vortag um etwas mehr Gemeinschaftsgefühl gebeten hatte. Aber sie wußte, daß es sie zutiefst frustriert hätte, zwei Stunden am Rande einer Wiese zu stehen und diesen ewig gackernden Mädchen zuzusehen.
    Patricia musterte sie kühl. »Wie du willst. Also, Evelin, was ist nun: Ziehst du dich noch um?«
    »Ich bleibe so«, sagte Evelin. Ihre Wangen hatten sich tief gerötet.
    Nun nimm doch Rücksicht, hätte Jessica am liebsten zu Patricia gesagt, zu Hosen kann sie nun mal kein kurzes, enges T-Shirt tragen, so wie du!
    Zusammen verließen sie das Haus. Auf dem Platz vor dem Portal stand Tim und betrachtete angelegentlich die vielen wilden Narzissen, die das Rasenrondell in der Auffahrt förmlich überschwemmten. Als er die anderen kommen hörte, wandte er sich um. In seinen sanften Augen lag ein Leuchten.
    »Ist es nicht herrlich?« fragte er. »Ich meine, der Frühling, ist er nicht herrlich?«
    »Tim kann stundenlang Blumen betrachten«, erklärte Evelin.
    Tim nickte. »Besonders im Frühling. Nach dem langen Winter
... Nun«, er trat näher an die kleine Gruppe heran, »ich sehe, es geht zum Reiten?«
    »Jessica kommt natürlich nicht mit«, sagte Patricia spitz, »es zieht sie in die Einsamkeit.«
    Tim musterte Jessica mit seinem Therapeutenblick, den sie vom Moment ihrer ersten Begegnung an als unangenehm und allzu eindringlich empfunden hatte. Es war ein bestimmter Ausdruck, den er beliebig aufsetzen konnte, wann immer es ihm angemessen schien, und er vermochte von einem Moment zum anderen jegliche Distanz zwischen ihm und seinem Gegenüber auszulöschen. Jessica konnte sich vorstellen, daß es Frauen gab, die ihm auf diesen Blick hin bereitwillig ihr intimstes Innenleben anvertrauten, zumindest deutete sein beruflicher Erfolg darauf hin. Bei ihr selbst trat die umgekehrte Wirkung ein: Sie verspürte jedesmal das Bedürfnis, ein paar Schritte zurückzuweichen.
    Evelin, Patricia und die Kinder stiegen in einen der beiden Leihwagen, die in der Einfahrt parkten. Evelin war noch immer hochrot im Gesicht.
    Tim sah ihnen nach, als sie davonfuhren. »Warum wolltest du nicht mit?« fragte er unvermittelt.
    »Wie?«
    »Na ja ... du willst nie mit, nicht? Mir ist das schon ein paarmal aufgefallen in den letzten und vorletzten Ferien. Deine endlosen, einsamen Spaziergänge ... Was soll das?«
    Diesmal machte sie tatsächlich zwei Schritte zurück. Sein Röntgenblick schien sie zu durchbohren. »Ich weiß nicht, was das soll«, sagte sie patzig, »und will es auch gar nicht wissen.«
    Als hätte er ihr nicht zugehört, fuhr er fort: »Elena war auch so. Hast du sie je kennengelernt? Alexanders erste Frau?«
    »Sie hat ein paarmal Ricarda zu uns gebracht und wieder abgeholt. «
    »Eine sehr schöne Frau«, sagte Tim, »wirklich eine auffallend schöne Frau. Spanierin. Schwarzhaarig. Wunderbare goldbraune Augen. Sehr stolz. Kompromißlos.«

    Es war das erste Mal, daß jemand positiv über Elena sprach. Jessica registrierte es verwundert.
    »Sie hielt sich immer abseits«, fuhr Tim fort, »ging eigene Wege. Sie machte nicht so viele Spaziergänge wie du, aber sie zog sich oft in die Tiefen des Parks zurück, saß dort irgendwo unter Bäumen oder auf Felssteinen in der Sonne, las oder träumte einfach vor sich hin. Patricia regte sich immer schrecklich auf, weil man sie praktisch nie für eine gemeinsame Unternehmung gewinnen konnte.«
    »Individualismus wird hier nicht gern gesehen, oder?«
    Wieder hatte es den Anschein, als habe er ihr nicht zugehört. »Was mich vor allem interessiert: Warum sind es immer solche Frauen, für die sich Alexander

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