Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
ihre Reisepläne vorverlegt. Sie dürfte auf dem Weg nach England sein. Oder ist dort bereits angekommen.«
Elena nickte langsam. »Ich hatte gehofft … aber da mir nun auch niemand mehr einfällt, bei dem sie sonst sein könnte, muß ich wohl davon ausgehen, daß sie wirklich zu diesem … diesem Keith gereist ist.«
Jessica merkte, wie sich ihr ganzer Körper zu entspannen begann. Es mochte für eine Mutter keineswegs angenehm sein, ihre fünfzehnjährige Tochter auf dem Weg nach England und zu einem jungen Mann zu wissen, bei dem zu bleiben sie fest entschlossen war. Aber andererseits gab es schlimmere und gefährlichere
Situationen, in denen ein psychisch schwer angeschlagenes Mädchen wie Ricarda hätte stecken können. Ohne daß sie Keith persönlich kannte, ohne daß sie über Details der Beziehung Bescheid wußte, hatte Jessica doch das instinktive Gefühl, daß Ricarda bei ihm gut aufgehoben war.
»Vielleicht ist Keith die Therapie, die Ricarda jetzt braucht«, meinte sie. »Das Zusammensein mit ihm, die Arbeit auf seiner Farm, dieses völlig andere Leben … Nach allem, was passiert ist, kann Ricarda ja offenbar nicht einfach wieder in die Schule gehen oder in ihren Sportclub - so als sei nichts gewesen. Da weitermachen, wo sie vor den Osterferien war, das funktioniert nicht. Bei keinem von uns übrigens. Sie bricht aus, sie sucht Heilung. Das ist nicht das Schlechteste.«
»Aber mit diesem Keith wollte sie sich schon vorher zusammentun. «
»Es ging ihr ja auch schon damals nicht gut. Sie sagten selbst gerade, daß sie Ihre und Alexanders Scheidung nicht verkraften konnte. Ihr Leben ist schon lange aus dem Gleichgewicht, und sie sucht einen Weg, sich selbst wieder in die Reihe zu bringen. Das ist in jedem Fall besser, als den ganzen Tag depressiv im Bett zu liegen!«
»Aber hören Sie!« Elena hatte für den Moment ihre zusammengesunkene Haltung aufgegeben und saß aufrecht und angespannt in ihrem Stuhl. Kaum daß ein wenig Leben in ihre Augen und in ihre Gesichtszüge zurückkehrte, gewann sie etwas von ihrer früheren Ausstrahlung zurück. »Meine Tochter ist fünfzehn. Gut, in ein paar Wochen wird sie sechzehn, aber das ändert auch nichts! Sie hat keinen Schulabschluß und nicht die geringste Vorstellung davon, wie eine berufliche Zukunft für sie aussehen könnte. Sie ist zudem schwer traumatisiert und ganz sicher nicht in der Lage, irgendwelche Schritte, die sie jetzt tut, in ihrer Konsequenz zu erkennen und abzuwägen. Sie flüchtet zu einem Mann, den weder ihre Mutter noch ihre … ihre Stiefmutter kennen und folglich auch nicht beurteilen können. Alles, was ich von
diesem jungen Mann weiß - und auch das nur aus diesem Tagebuch hier -, ist, daß er gewissenlos genug war, ein junges Mädchen zur gemeinsamen Flucht nach London zu überreden, um dann dort mit ihr auf irgendeine Art zu leben. Ich kann doch nicht tatenlos zusehen, wie Ricarda diesen Menschen am Ende noch heiratet und dann mit ihm auf einer einsamen Schaffarm irgendwo in Nordengland haust! Sie zerstört doch ihre ganze Zukunft, all ihre Chancen und Möglichkeiten dadurch!«
»Vielleicht bleibt sie nur vorübergehend bei ihm, so lange, bis ihre Seele geheilt ist. Sie versäumt ein Jahr in der Schule - aber das versäumt sie auch, wenn sie Tag für Tag daheim im Bett liegt. Sie tut, wovon sie im Moment spürt, daß es das beste für sie ist.«
»Dieses Gespür kann falsch sein, und ich möchte nichts riskieren. Als Mutter fühlt man da eine ungeheure Verantwortung. Sie werden mich verstehen, wenn Sie erst … wenn erst Ihr Baby da ist.«
Jessica sah sie erstaunt an. Elena deutete auf das Tagebuch, das auf ihrem Schoß lag. »Ich weiß es aus Ricardas Eintragungen. Es hat sie sehr getroffen, von dem Kind zu erfahren.«
»Sie werden verstehen«, sagte Jessica, »daß ich meinen Wunsch nach einem Kind nicht von Ricardas Reaktion abhängig machen konnte.«
Elena nickte. »Ich hatte das nicht vorwurfsvoll gemeint. Wirklich nicht. Im Gegenteil, ich … ich wollte Ihnen noch sagen, wie sehr ich mitfühle. Es muß sehr schwer sein, nun ganz allein auf die Geburt des Kindes zu warten. Ich bewundere, mit welcher Stärke und Gefaßtheit Sie das alles durchstehen.«
»Danke«, sagte Jessica, und als ob Elenas Worte bereits zu intim, zu persönlich gewesen wären, breitete sich plötzlich ein befangenes Schweigen zwischen ihnen aus. Beide hatten sie jegliche Vertrautheit stets vermieden, und auf einmal waren sie peinlich berührt von der
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