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Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Titel: Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Der Intercity war hoffnungslos überfüllt gewesen, fast die ganze Strecke hatte sie, auf ihrem Gepäck kauernd, im Gang verbracht. Der Flug nach London hatte Verspätung gehabt, und sie hatte ewig auf dem Frankfurter Flughafen herumgesessen und sich geärgert, daß sie nicht daran gedacht hatte, wenigstens ein Brot für unterwegs mitzunehmen. Sie war mörderisch hungrig, wagte sich aber nicht an ihr Geld. Um nicht in Versuchung zu kommen, tauschte sie es noch am Flughafen in englische Pfund um; nun konnte sie hier in Deutschland ohnehin nichts mehr kaufen.
    Wenigstens wurden im Flugzeug ein Sandwich, pappiger Kartoffelsalat und zum Nachtisch eine paar trockene Kekse serviert, und sie hatte alles mit Heißhunger in sich hineingeschlungen. Sie trank Kaffee dazu und bestellte so häufig Mineralwasser, daß die Stewardeß fast schon ärgerlich wurde. Egal. Irgendwie mußte sie schließlich durchhalten.
    Da sie sich in London nicht im mindesten auskannte, geriet ihre Fahrt zur Victoria Station zu einem Abenteuertrip, bei dem sie mehrfach mit der Underground in völlig abwegigen Gegenden landete und ängstlich und entnervt wieder umkehren mußte. Daß sie schließlich dort ankam, wo sie hin wollte, war eher Zufall. Nach schier endlosem Studium verwirrend vieler Fahrpläne begriff sie, daß erst am nächsten Morgen wieder ein
Zug zur Forster Square Station in Bradford gehen würde und daß ihr nichts übrigblieb, als die Nacht auf einer Bank zu verbringen. Es erschien ihr am sichersten, auf dem Bahnhofsgelände zu bleiben, sie mußte nur aufpassen, daß sie nicht von der Polizei aufgegriffen wurde. Wenn man sie als fünfzehnjährige Ausreißerin identifizierte, hatte sie die Chance verspielt, zu Keith zu gelangen.
    Sie fand ein Plätzchen ganz am Ende eines Bahnsteigs, eine Bank, die sich noch dazu halb verborgen hinter einem Pfeiler befand. Hier müßte schon jemand ganz gezielt Streife gehen, um sie zu entdecken. Obwohl die Temperaturen trotz der fortgeschrittenen Stunde kaum abkühlten, wollte ihr Frieren nicht nachlassen, was sie auf ihre Übermüdung und ihren bohrenden Hunger schob. Sie kramte einen warmen Pullover aus ihrem Rucksack, zog ihn über und schlüpfte dann in ihre Jeansjacke. Kuschelte sich in eine Ecke. Ihre Augen brannten vor Müdigkeit, aber ihr Herz schlug schnell und heftig und hielt sie wach. Sie würde bestenfalls in einen Dämmerschlaf fallen, dabei jedoch immer in einem Zustand höchster Wachsamkeit verharren.
    Wie ein Tier, dachte sie, ein wildes Tier, das zu jeder Minute mit seinen Feinden rechnen muß.
    Aber sie war weit gekommen. Sie war in seiner Nähe.
    Sie war in England.
    5
    … und plötzlich sah ich ein Bild … und auf dem Bild war ich mit einer Pistole, und ich schoß in diese Gesichter hinein, und ihre Augen waren ganz weit aufgerissen, und Blut quoll aus ihren Mündern. Krank und kaputt will ich sie sehen. Am allerliebsten TOT.
    Als ich im Bett lag, habe ich Fieber gekriegt. Ich habe dauernd
Bilder vor mir gesehen. Papa. Vor allem Papa. Papa mit durchgeschnittener Kehle. Er war voller Blut … überall lagen Tote …
    Ich wollte Mama sagen, daß J. ein kleines Miststück im Bauch hat, das sie Papa abgeluchst hat … diese Bilder von Blut, die ich auch gesehen habe, als ich das Fieber hatte. Inmitten von all dem Blut ist dann J. Sie ist tot. Ihre Kehle ist durchgeschnitten, und im Todeskampf ist das Miststück zwischen ihren Beinen herausgeflutscht, so ein schleimiger Zellhaufen, den man gar nicht als Baby erkennt …
     
    Sie stand im Bad und starrte in den Spiegel. Ihr Gesicht war bleich und wächsern wie das einer Toten. Ihre Beine zitterten; sie konnte nur stehen, indem sie sich am Waschbecken festhielt. Sie preßte die Oberschenkel zusammen, als könne sie damit ihr Baby in sich behalten. Sie hatte sich erbrochen, minutenlang, immer und immer wieder, bis nach jedem Würgen nur noch bräunlicher Gallensaft aus ihrem Mund kam. Sie hatte nach Luft geschnappt und eine Hand auf ihren Bauch gedrückt, in einer hilflosen Geste des Festhaltens, denn der Brechreiz schüttelte sie so stark, daß sie meinte, nichts, gar nichts, nicht einmal ihr ungeborenes Kind, könne in ihrem Körper bleiben, weil dieser Körper in übelkeitserregendem Entsetzen alles loswerden wollte, was er jemals aufgenommen hatte. Die ganze Zeit klang Elenas Stimme in ihrem Kopf, diese zaghafte, ängstliche Stimme, die zur schönen, stolzen Elena nicht passen mochte und mit der sie aus dem Tagebuch ihrer Tochter

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