Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
vorlas, zögernd und zaudernd, voller Fassungslosigkeit über das, was dort stand.
Ihr Wispern: »Ich habe solche Angst, Jessica, daß sie es getan hat. Ich habe so entsetzliche Angst.«
Ihr Flüstern: »Halten Sie es für möglich, Jessica? Ich habe Dinge gelesen, die mir sagen, sie muß krank sein. Sie muß krank sein! «
Ihre Frage, fast lautlos: »Wissen Sie, ob sie ein Alibi hat für die Tatzeit? Wo war sie? Wo war sie, Jessica? «
Und dann, um zu überzeugen - oder um vom Gegenteil überzeugt zu werden -, die Texte. Ganz bestimmte Passagen. So leise, als könnte hinter jedem Busch, in jedem Schatten jemand lauern, der nicht mithören durfte, wie sie ihr eigenes Kind eines furchtbaren Verbrechens verdächtigte.
» … und im Todeskampf ist das Miststück zwischen ihren Beinen herausgeflutscht, so ein schleimiger Zellhaufen, den man gar nicht als Baby erkennt … «
Die Übelkeit war so jäh gekommen, als habe jemand einen Schalter betätigt. Etwas wie einen Lichtschalter, der ein Zimmer völlig unvermittelt, von einer Sekunde zur nächsten, in Helligkeit taucht. Sie war aufgesprungen, die Terrasse, der Garten, das Haus hatten sich vor ihren Augen gedreht, und durch einen Schleier hatte sie Elena erkannt und durch eine Wand aus Watte ihre Stimme vernommen, jedoch nicht mehr verstanden, was sie sagte. Wie sie den Weg ins Bad hatte finden können, hätte sie später niemandem, schon gar nicht sich selbst, erklären können, denn alle Wände stürzten auf sie zu, und der Fußboden schlug Wellen. Und dann kotzte sie, kotzte ihr Entsetzen heraus, ihren Abscheu, ihre Angst, ihr Grauen, und meinte, nie wieder damit aufhören zu können und es vielleicht nicht einmal zu wollen. Kotzte und schwor sich dabei, daß sie ihr Kind verteidigen, daß sie es durch diesen ganzen Wahnsinn tragen und beschützen würde und daß all diese Verrückten um sie herum, diese kranken, perversen, gestörten Typen, machen konnten, was sie wollten, aber ihr Kind würde sie vor ihnen in Sicherheit bringen.
Sie sagte das auch zu dem bleichen, totenähnlichen Gesicht im Spiegel, und schließlich lächelte das Gesicht zaghaft, und sie wußte, daß sie noch lebte.
Elenas Stimme war noch immer so leise, daß sich Jessica anstrengen mußte, sie zu verstehen. Fast so, als spreche sie zu sich und nicht zu einem Gegenüber. Manchmal waren die nächtlichen Laute des Gartens - ein Rascheln, ein Zirpen, ein Seufzen - stärker
als ihre Worte, dann neigte sich Jessica nach vorn, um aufzufangen, was sonst an ihr vorübergeweht wäre.
»Alexander hat die Geschichte mit Marc nie verwunden. Die anderen beiden, Tim und Leon, wohl auch nicht, aber irgendwie konnten sie besser damit umgehen. Alexander hatte Albträume, furchtbare Albträume, die ihn so sehr ängstigten, daß er es zu manchen Zeiten nicht wagte, überhaupt einzuschlafen. Oder er schluckte starke Schlafmittel, die ihn so betäubten, daß er traumlos blieb. Dafür kam er dann am nächsten Tag kaum auf die Füße.
Lange Zeit hatte ich keine Ahnung, was mit ihm los war. Ich begann diese nächtlichen Attacken ebenso zu fürchten wie er. Ich bedrängte ihn immer mehr, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, aber er wehrte sich vehement. Und eines Nachts erzählte er mir dann alles. Er wußte sich nicht mehr zu helfen, er weinte wie ein Kind. Und er sagte, daß er seitdem, seit jener Nacht, eigentlich auch nicht mehr leben wollte.
Ich glaube, es hat sie alle drei fertiggemacht. Tim und Leon konnten sich noch einreden, daß sie mit Rücksicht auf Alexander jede Hilfeleistung unterlassen hatten, aber beide sind nicht dumm. Sie wußten im Grunde ganz genau, daß ein Verweis von der Schule und Alexanders damit zusammenhängende Angst vor seinem Vater in keinem Verhältnis standen zum Tod eines Menschen. Marc war qualvoll verreckt. Dafür gab es keine Entschuldigung. Zunächst, als die Geschichte um den toten Jungen zwar einen ungeheuren Aufruhr an der Schule bewirkte, aber für sie drei ohne Konsequenzen blieb, offenbar wurden sie nicht einmal verdächtigt, mögen sie erleichtert gewesen sein. Aber die Zeit vergeht, und sie relativiert die Ereignisse, nicht wahr? Irgendwann waren sie erwachsen. Hatten ihr Abitur, begannen zu studieren. Bestanden Prüfungen, hatten Liebschaften, dachten irgendwann an ernsthafte Bindungen. Und wußten, daß sie am selben Punkt wären, wenn sie sich damals, in jener Nacht, nicht ihrer Feigheit ergeben hätten. Sie hätten ihren Abschluß an einer
anderen Schule
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