Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens

Titel: Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
Vom Netzwerk:
einen Ort, an den sie sich zurückziehen konnten und die Tür vor der Welt verschließen. Stanbury wurde ihre Zuflucht. Ein Apartment in London oder ein Häuschen in einer belebten Feriengegend hätte nie diesen Stellenwert einnehmen können, aber Stanbury war wie … abseits der Welt. Yorkshire, ein kleines Dorf, von dem kaum ein Mensch je gehört hat, verwunschenes Brontë-Land, irgendwo im neunzehnten Jahrhundert stehengeblieben. In Stanbury war nichts mehr wirklich. Da war alles weit weg. Dort stärkten sie sich, dort beruhigten sie ihre Nerven, dort leckten sie ihre Wunden, dort übten sie sich im Verdrängen. Hat Alexander bei Ihnen auch so oft über die Stille von Stanbury gesprochen? Manchmal wollte ich von ihm wissen, warum wir nicht auch einmal woanders hinfahren können, und jedesmal antwortete er mir, daß er sich keinen Platz auf der Welt vorstellen könne, an dem er diese Stille finden würde. Es ging dabei nicht einfach um Ruhe, um Abgeschiedenheit. Die Stille von Stanbury war etwas Besonderes. Von Zeit zu Zeit empfand sogar ich es selbst so. Eine Stille, die etwas mit einer Unberührtheit zu tun hatte. Als bliebe die Welt draußen vor den Toren, respektvoll und unaufdringlich. Was meinen Sie, kann ein Ort einen solchen Zauber haben? Oder brachten wir ihn dorthin - besser gesagt: die drei Männer? War Stanbury still an sich, oder wurde es still durch uns? Ein Platz der Ruhe und des Vergessens. Das Tor fiel zu, und alles Böse der Vergangenheit, alles Bedrohliche der Zukunft rückte in weite Ferne.
    Wobei dies natürlich in Wahrheit nur ein frommer Wunsch war. Denn nichts war in Ordnung, gar nichts, und die alten Mauern,
der verwunschene Park, die endlose Einsamkeit dienten nur dazu, all das Unstimmige totzuschweigen. Was sage ich - das Unstimmige? Das trifft es nicht ganz. Es ging nicht um Unstimmiges. Sondern um allerlei Häßliches, Böses, Verdorbenes. Brutales und Widerwärtiges. Ja, darum ging es. Und vielleicht war die berühmte Stille von Stanbury nichts anderes als ein kollektives Totschweigen dessen, was man nicht hätte ertragen können, hätte man sich ihm gestellt. Tot und Schweigen. Wenn ich es mir richtig überlege, verbinde ich diese Begriffe weit eher mit der Erinnerung an Stanbury als den Begriff Stille .
    Was alles nicht in Ordnung war? Wo soll ich anfangen? Bei dem Ehedesaster zwischen Leon und Patricia? Bei dem Ehedesaster zwischen Tim und Evelin? Bei dem Ehedesaster zwischen Alexander und mir? Leon hat Patricia geheiratet, weil sie schwanger wurde und weil sowohl ihre Eltern als auch seine daraufhin Druck machten. Auf dem Standesamt machte er ein Gesicht, als erwäge er, aus dem Fenster zu springen, und Patricia schaute drein, als habe sie eine Beute erlegt. Ich vermute, sie hatte frühzeitig beschlossen, einmal Anwaltsgattin zu werden, denn ein Mensch wie Patricia läßt sich nicht zufällig von irgend jemandem schwängern. Tim und Alexander versuchten Leon zu trösten, indem sie ihm einredeten, bald sei immerhin Stanbury auch sein Besitz und damit für sie alle uneingeschränkt zugänglich. Aber das war eine Sache. Die andere Sache war, Tag für Tag mit einer Frau wie Patricia leben zu müssen, mit ihren Ansprüchen und Forderungen, ihrem Ehrgeiz, ihrer eisernen Disziplin, ihrer Herrschsucht und eben all dem, was sie so unwiderstehlich machte. Leon hat Patricia ohne Ende betrogen, und dennoch war sie immer die Stärkere. Leon kam mir vor wie ein kleiner Junge, der völlig untergebuttert wird und dafür gelegentlich hinter dem Rücken seines Peinigers Grimassen schneidet und die Zunge herausstreckt. Patricia schien damit leben zu können, solange nach außen hin das Bild der perfekten Familie gewahrt wurde. Sie war eine Frau, der es hauptsächlich darum ging, vor ihrer Umwelt als
makellos und unangreifbar dazustehen. Die Fassade mußte stimmen, das war ihr wichtig. Das Gebälk im Inneren konnte voller Würmer sein. Ich weiß nicht, was das alles letzten Endes mit Leon gemacht hat. Aber wissen Sie, was ich als erstes dachte, als ich von dem scheußlichen Verbrechen hörte? Ich dachte: Das war Leon. Er ist ausgerastet, und das ist weiß Gott kein Wunder.
    Wenn man dann genauer nachdenkt, kann man es sich nicht vorstellen, aber eigentlich kann man sich so etwas von keinem Menschen vorstellen, und doch muß es irgend jemand getan haben. Vielleicht ist die erste Intuition nicht die schlechteste. Aber vielleicht beharre ich jetzt auch nur darauf, weil ich solche Angst habe, daß Ricarda

Weitere Kostenlose Bücher