Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
dichten, kräftigen Blätter des Sommers. Auf den Feldern begann das Korn zu wachsen. Roter Klatschmohn glühte an den Rändern der Feldwege. Selbst diese eher karge, sehr nordische Landschaft hatte Farben und Fülle angenommen. Der Himmel war von einem lichten Blau.
Wie schön es hier ist, dachte Jessica und wunderte sich selbst, welch warme Gefühle sie für eine Gegend hegte, mit der sie so grausame Erinnerungen verbanden. Einmal mußte sie anhalten und eine Herde Schafe die Straße überqueren lassen. Sie versuchte, sich Ricarda in dieser ländlichen Idylle, die gerade im Herbst und Winter auch sehr schnell zur ländlichen Einsamkeit und Düsternis werden konnte, vorzustellen. Als Frau eines Farmers. Die in Gummistiefeln über die Felder lief, die Hühner fütterte, Zäune reparierte, deftiges Essen kochte. Für die Kino und Theater und Konzerte eher Seltenheitswert hatten. Überraschenderweise bereitete es ihr keine größeren Probleme, Ricarda in dieses Bild zu integrieren.
Die Farm lag sehr einsam, wirkte jedoch im verdämmernden Licht des Tages warm und einladend. Niemand war auf dem Hof
zu sehen, als Jessica dort einbog und anhielt. Erst als sie ausstieg, entdeckte sie einen schwarzen Hund, der auf einem Stück Gras zwischen zwei Ställen lag und vor sich hindöste. Er hob den Kopf, wedelte ein wenig mit dem Schwanz, stand jedoch nicht auf. Seine graue Schnauze und der milchige Schleier über den Augen verrieten, daß er sehr alt war. Offenbar hatte er beschlossen, daß seine Aufgabe als Wächter des Hauses beendet war.
Sie ging zur Haustür und betätigte den Klopfer. Es dauerte eine Weile, bis sie Schritte hörte, dann öffnete eine verhärmt aussehende Frau die Tür. Sie hatte strähnige Haare, war völlig ungeschminkt, und ihren Augen sah man an, daß sie viel weinte.
»Ja?« fragte sie mißtrauisch.
Jessica streckte ihr die Hand hin. »Ich bin Jessica Wahlberg. Eine … Verwandte von Ricarda.«
Sie fixierte das Gesicht ihres Gegenübers genau und sah, daß ein kurzes Erschrecken darüber hinwegglitt. Ricarda war dieser Frau also auf jeden Fall bekannt.
»Ich bin Gloria Mallory«, sagte die Frau. »Möchten Sie meinen Sohn sprechen?«
»Eigentlich möchte ich Ricarda sprechen.«
Gloria hatte sich jedoch bereits umgewandt und rief in den dämmrigen Flur hinein: »Keith! Keith, hier ist jemand für dich!«
Ein junger Mann tauchte auf, groß, breitschultrig, mit einem offenen, sympathischen Gesicht. Jessica empfand ihn sofort als sehr angenehm.
»Ja?« fragte er.
»Die Dame da …«, sagte Gloria und zog sich einen Schritt zurück.
»Ja?« fragte Keith noch einmal.
»Ich bin Jessica Wahlberg. Sie sind Keith Mallory?«
»Ja.« Er ging spürbar auf Distanz. Nicht, daß er plötzlich feindselig gewirkt hätte, aber es war, als weiche er innerlich vor ihr zurück. Sein Gesicht nahm von einem Moment zum anderen einen verschlossenen Ausdruck an.
»Keith, Ricardas Mutter und ich sind in großer Sorge um Ricarda. Sie ist verschwunden, und das in einer seelischen Ausnahmesituation. Es ist wichtig, daß wir sie finden.«
»Und was wollen Sie bei mir?«
»Sie sind doch eng befreundet mit ihr. Wir vermuten daher, daß sie vielleicht zu Ihnen wollte.«
»Hier ist sie nicht«, sagte Keith.
Jessica sah ihn scharf an. »Keith, Sie müssen mir bitte die Wahrheit sagen. Wir meinen es ja nicht böse mit Ricarda. Aber ihre Mutter macht sich entsetzliche Sorgen. Das müssen Sie doch verstehen können.«
Erstmals während des Gesprächs trat ein Ausdruck von Abneigung in Keiths Augen. »Sie sollten sich zur Abwechslung alle einmal in Ricarda hineinversetzen. Für ihr Alter hat sie verdammt viel mitgemacht. Erst die Scheidung ihrer Eltern, dann die nächste Heirat des Vaters. Diese unsäglichen Urlaube hier in Stanbury House, zusammen mit einer Horde von Neurotikern, die ihr nicht den kleinsten Freiraum zugestanden. Und dann dieses Massaker, bei dem sie ihren geliebten Vater verloren hat. Es gibt viele, die würden unter all dem zusammenbrechen.«
»Aber das habe ich doch gerade gesagt. Sie ist traumatisiert. Sie braucht Hilfe. Sie ist nicht in der Verfassung, sich irgendwo ganz allein durchzuschlagen.«
»Vielleicht ist sie nicht in der Verfassung, ihre sogenannte Familie noch länger zu ertragen. Könnte doch auch sein, oder? Ihre Mutter, die sie begluckt. Ihre Stiefmutter, die ihr den Vater weggenommen hat. Und«, sein Blick glitt zu ihrem Bauch, verweilte eine Sekunde darauf, »schon gar nicht dieses
Weitere Kostenlose Bücher