Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
Normen sind da kaum aufzustellen. Jeder versucht, die Dinge auf seine Weise zu verarbeiten, und du klammerst dich eben, wie du sagst, an banalen Dingen fest. Ich denke, das ist schon in Ordnung so.«
»Ja, wenn du meinst«, sagte Evelin, und sie wirkte ein wenig getröstet, so als habe sie sich wirklich Gedanken gemacht, daß etwas nicht stimmte mit ihr.
Jessica wußte, daß Elena daheim neben ihrem Telefon saß und ihrem Anruf entgegenfieberte.
»Wenn ich dich eine Stunde allein lassen kann«, sagte sie, »würde ich gern zur Mallory-Farm fahren. Es würde mich sehr beruhigen zu wissen, ob Ricarda dort ist, und ich muß auch Elena Bescheid sagen.«
»Du kommst aber wieder?«
»Natürlich komme ich wieder. Paß auf, du legst dich einfach noch ein bißchen hin. Du siehst sehr erschöpft aus. Und wenn ich zurück bin, essen wir zusammen etwas Schönes. Okay?«
»Okay«, sagte Evelin.
Sie hatte ein billiges Leihauto genommen, dessen schlechte Federung sie die Unebenheiten der Landstraße in heftigen Stößen am ganzen Körper spüren ließ. Sie überlegte, ob sich ihr Baby eigentlich noch wohl fühlte bei ihr, und beschloß, daß sie mehr auf sein Wohlbefinden achten mußte. Also keinen Wein heute abend. Sie seufzte. Sie lechzte so sehr nach Entspannung.
Sie hatte sich bei dem Mädchen am Empfang nach dem Weg zur Mallory-Farm erkundigt. Es war immer noch dasselbe Mädchen wie im April, und es war noch genauso picklig. Es hatte sie fasziniert angeglotzt. Die Morde von Stanbury, der anschließende Aufenthalt der Überlebenden im The Fox and The Lamb und die ständige Präsenz der Polizei, sogar die eines Beamten von
Scotland Yard, hatten zum erstenmal etwas Aufregung und Dramatik in das kleine Dorf und das Leben seiner Bewohner gebracht. Nun war zuerst Evelin wieder aufgetaucht, jetzt Jessica. Jessica sah dem Mädchen an, daß es sich eine Neuauflage der spannenden Ereignisse wünschte, und dies entfachte heftigen Widerwillen in ihr.
»Ich heiße Prudence«, sagte das Mädchen mit vertraulich leiser Stimme, die Abneigung, die ihm entgegenschlug, offenbar nicht im geringsten bemerkend. »Ich muß sagen, das alles ist doch sehr mysteriös, nicht wahr? Die Unschuld von Mrs. Burkhard ist wohl erwiesen?«
»Ja«, sagte Jessica kurz.
Prudence setzte eine mitfühlende Miene auf, was ihr nicht überzeugend gelang. »Die arme Mrs. Burkhard! Es muß schrecklich sein, unter einen solchen Verdacht zu geraten! Immerhin war sie vier Wochen im Gefängnis. Ohne zu wissen, ob man ihr am Ende glauben würde!«
»In eine solche Situation kann jeder von uns kommen«, sagte Jessica. »Könnten Sie mir jetzt bitte erklären, wie ich …«
Prudence war nicht gewillt gewesen, ihr Opfer, aus dem sich möglicherweise Informationen ziehen ließen, so schnell gehen zu lassen. »Schrecklich, daß dieser Kerl noch immer frei herumläuft! Gerade vorhin habe ich noch mal eine Fahndungsmeldung der Polizei im Radio gehört. Da packt einen richtig das Grauen. Ich meine, der ist doch komplett verrückt! Ein Serienkiller vielleicht?«
»Ich möchte …«, setzte Jessica an.
»Wie gut, daß die Presse noch nicht mitbekommen hat, daß Mrs. Burkhard hier ist«, sagte Prudence, die genau dies ganz offensichtlich tief bedauerte. »Die hatten nämlich vor dem Gefängnis gewartet, und Mrs. Burkhards Anwalt muß ein richtiges Verwirrspiel inszeniert haben. Jedenfalls haben die dann wohl gedacht, sie ist nach London gebracht worden. Ein Glück! Wer möchte in solch einer Situation auch noch von Reportern belagert werden?«
Jessica hatte den fast sicheren Verdacht, daß ein Journalist, der im The Fox and The Lamb nachfragen würde, von Prudence sofort einen unmißverständlichen Tip erhielte, der die ganze Meute erneut anziehen würde. Sie hoffte, daß Evelins Anwalt vielleicht schon am folgenden Tag die Freigabe des Passes würde durchsetzen können. Sie mußten schnell hier weg.
Es gelang ihr endlich, der geschwätzigen Prudence die gewünschte Wegbeschreibung zu entlocken (»Es gibt mehrere Möglichkeiten. Sie bevorzugen sicher eine, die Sie nicht an Stanbury House vorbeiführt, oder? An Ihrer Stelle könnte ich es absolut nicht ertragen, noch einmal auch nur in die Nähe dieses Ortes zu kommen!«), und dann war sie aufgebrochen. In einen sehr hellen, warmen Abend hinein. Die Natur hatte sich noch erheblich weiterentwickelt in den vergangenen vier Wochen. Die Bäume trugen nicht mehr das zarte, hellgrüne Laub des Frühlings, sondern die
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