Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
vielleicht so unschuldig wie sie selbst. Man konnte sie nicht im Stich lassen. Nicht schon wieder. Man hatte es oft genug getan.
»Mein Anwalt war gestern abend noch einmal hier«, sagte Evelin, »das ist sehr nett, oder? Am Samstag abend … Er meinte, ich könnte jetzt bestimmt bald England verlassen. Er will morgen beantragen, daß ich umgehend meinen Paß zurückbekomme.
Er sagt, die haben nichts mehr, womit sie noch begründen können, mich hierzubehalten.«
»Das ist doch eine wunderbare Nachricht. Weißt du, ob sie Phillip Bowen gefaßt haben?«
Evelin schüttelte den Kopf. »Nein. Ich meine, sie haben ihn nicht gefaßt. Jedenfalls gestern noch nicht, wie mein Anwalt sagte. Und heute ist auch nichts dergleichen im Radio gesagt worden. Dabei haben sie über Radio und Fernsehen nach ihm gefahndet. Das würden sie doch auch sagen, wenn sie ihn hätten, oder?«
»Vermutlich. Ist man denn ganz sicher, daß er es war?«
Evelin zuckte mit den Schultern. »Sein Alibi war jedenfalls von Anfang bis Ende erlogen und konstruiert. Und als das aufflog, ist er aus seiner Wohnung geflüchtet. Manches spricht für ihn als Täter, denke ich. Vieles sogar.«
Jessica seufzte tief. »Entweder er hat es getan. Oder er hat sich hinterher so abgrundtief dumm verhalten, daß er wenig Chancen haben wird zu beweisen, daß er es nicht war. Ich wünschte nur, die ganze Sache würde endlich geklärt werden.«
»Ja«, sagte Evelin.
Auf einmal war Befangenheit zwischen ihnen entstanden. Nach der spontanen Umarmung war ihnen beiden wieder bewußt, was alles geschehen war, und dies schien jede Leichtigkeit zu verbieten.
»Wem hast du davon erzählt, daß du zu mir fliegst?« fragte Evelin, und fast hätte Jessica geantwortet, daß es ja gar nicht mehr viele gab, denen sie es erzählen hätte können, aber sie hatte Angst vor Evelins Reaktion und schluckte den Satz herunter.
»Ich wollte Leon Bescheid sagen«, sagte sie statt dessen. »Ich habe zweimal heute versucht, ihn zu erreichen, aber er war nicht zu Hause. Und dann weiß es Elena.«
Evelin sah völlig erstaunt aus. »Elena? Habt ihr überhaupt Kontakt?«
»Seit neuestem. Seit gestern abend. Es ging eigentlich um Ricarda. « Rasch berichtete sie, daß Elena und sie selbst vermuteten,
daß Ricarda zu Keith Mallory durchgebrannt war. Von Elenas darüber hinausgehenden Ängsten sagte sie nichts; Evelin vermittelte nicht den Eindruck, in der Lage zu sein, beunruhigende Informationen verarbeiten zu können. »Ich will noch heute abend zu der Mallory-Farm hinausfahren. Elena macht sich größte Sorgen, und vielleicht kann ich sie beruhigen.«
»Sie soll Ricarda doch ihren Weg gehen lassen. Wenn sie diesen Keith liebt und bei ihm bleiben will - warum nicht? Ich finde es gut, daß Ricarda so eigenwillig ist. Sie ordnet sich niemandem unter, folgt ihrem eigenen Instinkt. Weißt du, irgendwie bewundere ich sie.«
»Ja. Aber sie ist noch nicht einmal sechzehn. Elena ist verantwortlich für sie. Sie kann nicht die Hände in den Schoß legen und so tun, als gehe sie das alles nichts an. Sie muß wenigstens herausfinden, wo Ricarda ist!«
Evelin antwortete darauf nicht, sondern fragte statt dessen übergangslos: »Weißt du zufällig, ob bei mir zu Hause alles in Ordnung ist? Ich hatte meine Putzfrau gebeten …«
»Sie war bei mir. Ich habe sie bezahlt und habe auch den Schlüssel übernommen und nach dem Rechten gesehen. Du mußt dir keine Gedanken machen. Alles ist in bester Ordnung.«
»Nicht, daß das wirklich wichtig wäre«, murmelte Evelin. Sie sah an Jessica vorbei zum Fenster hinaus. »Eigentlich ist gar nichts mehr so richtig wichtig. Aber irgendwie klammert man sich an den banalen Dingen fest, geht dir das auch so? Als ich im Gefängnis war, mußte ich dauernd daran denken, ob die Putzfrau wohl die Blumen im Garten gießt, und ich habe mich schrecklich aufgeregt bei der Vorstellung, daß sie es nicht tut und am Ende alles verdorrt. Ist das nicht verrückt? Ich meine, da sitze ich unter Mordverdacht in einem Gefängnis in England und habe keine Ahnung, wie das alles für mich ausgeht, und mein Mann ist umgebracht worden und einige meiner besten Freunde - und ich heule, weil vielleicht die Blumen in meinem Garten vertrocknen! Als ob ich nicht ganz normal wäre!«
»Was ist schon normal nach solch einem Ereignis?« Jessica strich sich mit beiden Händen die Haare aus der Stirn. Es war so warm, und sie war sehr müde. »Wie vielen Menschen passiert, was uns passiert ist?
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