Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
denn es war von vornherein klar, daß ich keine Chance hatte. Es ging wohl vielmehr darum, eine Entscheidung herbeizuführen. Klarheit zu schaffen. Einen für mich unerträglichen Zustand zu beenden. Ich konnte ihn nur beenden, indem ich ganz eindeutig begriff, daß mein Mann sich nie auf meine Seite schlagen würde. Daß er zu den anderen gehörte. Es tat weh, das können Sie mir glauben, es gab wohl kaum je in meinem Leben etwas, das mir so weh getan hat. Aber ich brauchte diesen Schmerz, um den Schlußstrich ziehen zu können. Und nach allem, was geschehen ist, bin ich mehr denn je davon überzeugt, das richtige getan zu haben.
Aber wissen Sie, was falsch war? Ich hätte Ricarda, mein Kind, diesem Irrsinn nicht aussetzen dürfen. Ich wußte, daß das eine kranke Gesellschaft ist, und ich hätte darum kämpfen müssen, daß Ricarda an diesen Urlauben nicht teilnimmt. Ein Umgangsrecht konnte ich Alexander nicht völlig verweigern, aber ich hätte, notfalls auf juristischem Weg, erkämpfen müssen, daß Ricarda an diesen Stanbury-Reisen nicht teilnehmen durfte. Sie hat
Patricia gehaßt und Tim auch. Sie hat genau gespürt, wie sehr ihr Vater ein Gefangener dieser Menschen war, auch wenn sie natürlich über den Hintergrund nicht Bescheid wußte. Ich meine die Geschichte mit Marc. Das soll sie nie erfahren. Versprechen Sie mir, daß Sie ihr nie davon erzählen.
Ich hätte, ich hätte … aber dann hätte es für sie überhaupt keinen Urlaub mehr mit ihrem Vater gegeben, denn für ihn kam nur Stanbury in Frage. Und sie hing so an ihrem Vater. Wahrscheinlich hätte ich es so oder so nur falsch machen können. Ganz gleich, was ich getan hätte. Die Frage ist nur, ob ich in jedem Fall an den Punkt gekommen wäre, an dem ich jetzt stehe. Ob ich diese Angst haben müßte. Die Angst, daß mein Kind … daß es meine Tochter war, die … die diese furchtbare Stille von Stanbury nicht mehr ertragen hat.«
6
Evelin sah schlecht aus, aber sie hatte deutlich abgenommen, was sie weit weniger plump erscheinen ließ als sonst. Sie trug eine Hose, die für ihre Verhältnisse recht locker saß, und dazu ein T-Shirt, das dringend hätte gewaschen und gebügelt werden müssen. Überhaupt wirkte sie völlig ungepflegt. Sie roch nach Schweiß, so als hätte sie tagelang nicht mehr geduscht, ihre Haare waren fettig, sie hatte sich nicht geschminkt, und ihre Füße - sie lief barfuß - waren grau von Dreck. Sie saß in einem besonders kleinen, billigen Zimmer des The Fox and The Lamb am Fenster, und irgendwie vermittelte sie den Eindruck, sie habe sich seit des panischen Anrufs bei Jessica von dort nicht fortgerührt.
Jessica empfand es als seltsam anstrengend und berührend, plötzlich wieder hier zu sein. Obwohl es kaum einen Monat her war, daß sie genau hier, in dieser schlichten Herberge, gesessen
hatte, betäubt von den Geschehnissen und fassungslos von der Schnelligkeit, mit der die Polizei Verdächtigungen traf und wieder fallenließ und Dinge ans Tageslicht förderte, von denen sie nichts gewußt hatte. Die Zeit dazwischen, die Zeit zu Hause, hatte dies alles in die Ferne gerückt, und nun, kaum war sie hier, stand alles wieder dicht vor ihr: die Erinnerung an die Ferien, die Erinnerung an das Grauen. Als sei kein Tag vergangen seitdem, als habe sich nichts verändert.
Und es hat sich auch nichts verändert, dachte sie, wir wissen nicht, wer es war. Erst hat die Polizei vermutet, es sei Phillip gewesen. Dann dachten sie, es sei Evelin. Jetzt glauben sie wieder, es sei Phillip. Elena fürchtet, es sei Ricarda. Ich hatte Leon im Verdacht. Nichts hat sich geändert. Wir wissen nichts.
»Evelin«, sagte sie, »ich bin froh, dich zu sehen. Außerhalb des Gefängnisses!« Sie ging auf die Freundin zu und schloß sie in die Arme. »Du hast abgenommen«, fügte sie hinzu. Es war sicher nicht wirklich wichtig, aber sie hatte plötzlich das Bedürfnis, Evelin eine Freude zu machen, und sie dachte, daß diese Feststellung sie vielleicht ein wenig glücklich machen würde.
»Ich weiß«, sagte Evelin, »meine Sachen sitzen nicht mehr so eng.« Es klang nicht so, als bedeute ihr dies etwas. Sie stand auf, erwiderte Jessicas Umarmung mit Inbrunst. Fast war es, als klammere sie sich an sie.
»Danke, daß du gekommen bist«, flüsterte sie. »Ich danke dir so sehr!«
»Das ist doch selbstverständlich«, sagte Jessica, jetzt ein wenig beschämt, weil sie am Anfang gezögert hatte. Evelin hatte ihren Kopf hinhalten müssen und war
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