Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
der Angelegenheit mit ihrem Paß getan. Wie schön wäre es, endlich den Rückflug buchen zu können.
Sie öffnete entschlossen den Kleiderschrank, ignorierte geflissentlich Tims Sachen, die darin hingen oder in den Schubfächern ordentlich gestapelt lagen. Die gingen sie nichts mehr an, sie würde sich keineswegs mit ihrem Rücktransport belasten. Was immer Leon mit dem Haus vorhatte, er konnte sie dann beim allgemeinen Entrümpeln gleich ebenfalls entsorgen.
Unten im Schrank lag ihr Koffer, sie zog ihn hervor, legte ihn aufgeklappt auf das Bett. Sie kümmerte sich nicht darum, Ordnung zu halten, warf einfach alles hinein, Wäsche, Strümpfe, Pullover, ein paar Nachthemden. Auch ihre sackartigen Hausgewänder, mit denen sie immer gehofft hatte, ihre Pfunde kaschieren zu können und in denen sie in Wahrheit nur noch plumper und unförmiger ausgesehen hatte, als sie es ohnehin tat.
»Du siehst aus wie ein fetter Trampel«, hatte Tim gesagt, »und in den Dingern siehst du aus wie ein fetter Trampel, der sich eine alte Gardine umgehängt hat.«
Vielleicht gar kein schlechter Vergleich. Tim mochte brutal gewesen sein, aber womöglich hatte er häufig einfach recht gehabt mit dem, was er sagte.
Schon wieder Tim. Sie hielt in ihren Bewegungen inne, preßte leise stöhnend beide Hände gegen die Stirn. Sie hatte nicht mehr über ihn nachdenken wollen, aber unversehens schlich er sich immer wieder heran. Zwölf gemeinsame Jahre ließen sich offenbar nicht so leicht verdrängen. Unendlich viele Stunden, Minuten, Sekunden. Unendlich viele Szenen, Situationen, die sich tief in die Erinnerung eingegraben hatten. Fraglich war, ob man sie je loswurde.
Tim, wie er die Stirn runzelte. Tim, wie er grinste. Tim, wie er lachte. Tim, wie er über die Wiese ging. Tim, wie er eine Kaffeetasse zum Mund führte. Tim, wie er schmale Augen bekam, wenn er sich ein Opfer auserkor. Tim, wie er sie ansah, wenn er mit ihr schlafen wollte. Tim, wie er sich im Bett über sie neigte. Tim, der ihre Hand hielt, als sie über die Flure des Krankenhauses geschoben wurde, und …
Sie stieß einen erstickten Schrei aus. Genau davor hatte sie Angst gehabt. Davor, daß die Bilder jener Nacht sie wieder einholen würden. Vielleicht hätte sie andernfalls sogar über Tim nachdenken, ihrer beider Beziehung aufarbeiten, bewältigen und akzeptieren können, aber immer lag das Entsetzen auf der Lauer, mit dem sie auf jede Konfrontation mit jener Nacht reagierte. Die
Ströme von Blut, die ihr die Beine hinabliefen. Die Panik, mit der sie erkannte, daß dies etwas Schreckliches bedeuten mußte. Die Fahrt zum Krankenhaus, sie leise stöhnend, Tim über jede rote Ampel fluchend. Die Notaufnahme, man ließ sie ein Formular ausfüllen, und während sie dort am Tresen stand und ihr der Name ihrer Krankenversicherung nicht mehr einfiel, bildete sich eine Pfütze von Blut zwischen ihren Füßen. Tim suchte noch nach einem Parkplatz für das Auto, und sie fühlte sich hilflos und allein und hatte den sicheren Eindruck, jede andere Frau würde genau wissen, wie man sich nachts in der Notaufnahme eines Krankenhauses verhielt, wenn man gerade sein Baby verlor, aber sie machte irgendwie wieder alles falsch, verschmutzte den Fußboden und konnte niemandem klarmachen, wie dramatisch ihr Zustand war und daß sie dringend Hilfe brauchte. Tim kam angejapst und war völlig perplex, sie am Tresen stehen zu sehen, und sie brach in Tränen aus und sagte: »Ich weiß nicht, wo ich versichert bin.« Die Krankenschwester auf der anderen Seite tippte ungerührt irgendwelche Zahlen in ihren Computer.
Tim hatte all den Phlegmatikern natürlich Dampf gemacht, jede Menge Wirbel veranstaltet, der Schwester befohlen, so schnell sie konnte einen Arzt zu holen und ein Bett frei zu machen, so daß sich Evelin endlich hinlegen konnte. Dann hatte es plötzlich gewimmelt von Schwestern, und es waren sogar mehrere Ärzte dagewesen und der Anästhesist, der wissen wollte, wann sie zuletzt etwas gegessen hatte, woran sie sich aber auch wieder nicht erinnern konnte.
»Ich muß Sie operieren«, sagte ein Arzt, der ein blasses, sympathisches Gesicht hatte und recht müde aussah, und sie hatte leise gefragt: »Was ist mit meinem Baby?«
Er hatte nicht darauf geantwortet, aber sie konnte in seinen Augen lesen, daß es nicht die mindeste Hoffnung für ihr Kind gab.
Sie vernahm ein leises Wimmern und brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, daß es von ihr selbst stammte. So viele
Jahre waren
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