Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
aus.
Wie vor einem Gewitter, dachte Jessica, als sie gegen sechs Uhr das Bett verließ, um sich für den Abend zurechtzumachen. Es würde die aufgewärmten Reste des Mittagessens geben, niemand brauchte zu arbeiten. Um halb sieben wollten sie sich wie üblich im Wohnzimmer treffen und einen Aperitif trinken, eine Sitte, die Jessica immer gemocht hatte. Heute reichte der Gedanke daran aus, sie zu lähmen. Sie wünschte sich weit weg, zusammen mit Alexander, irgendwohin, wo sie beide ganz allein waren. Im Innersten wußte sie, daß dieser Wunsch nie mehr vergehen würde, daß sie nicht mehr in der Lage wäre, ihn zu unterdrücken. Das Schlimme war, daß sie beim Mittagessen keineswegs aus einer Laune heraus geredet, irgendwelchen Unsinn gesagt hatte. Sie hatte ausgesprochen, was schon lange in ihr schwelte, was sie sich nur bislang selbst nie eingestanden hatte. Sie empfand die Gemeinschaft der Freunde als zwanghaft, und damit stand fest, daß der Tag kommen mußte, an dem sie aufbegehren würde - wie Elena.
Im Wohnzimmer waren bereits alle versammelt, und Patricia attackierte gerade Alexander in der gewohnt scharfen Form, weil
er sich bei Ricarda nicht durchzusetzen verstand. Sie unterbrach ihren Redestrom, als Jessica eintrat.
Evelin nahm ein Sektglas vom Kaminsims und trat auf Jessica zu. »Für dich«, sagte sie. »Geht es dir besser?«
»Ja, alles in Ordnung«, murmelte Jessica. Tatsächlich war ihr nicht mehr übel, aber zu viele Gedanken bedrängten und bedrückten sie.
»Ricarda ist bisher nicht erschienen«, sagte Alexander. Er war sehr blaß. »Geht es dir wirklich besser?« fragte er besorgt. »Du siehst immer noch ziemlich schlecht aus.«
»Du auch«, erwiderte Jessica, »wir haben offenbar beide einen schlechten Tag.«
Patricia lachte. Es klang schrill und unecht. »Die einzige von eurer Familie, der es sicher blendend geht, ist Ricarda. Während ihr euch Sorgen macht, läßt sie es sich irgendwo gutgehen!«
»Ich mache mir keine Sorgen um Ricarda«, sagte Jessica. »Ich glaube, ich habe das heute mittag schon klargestellt.«
»Jessica, bitte!« mahnte Alexander leise.
Die Stimmung war plötzlich wieder so angespannt wie am Mittag. Sie standen alle mit ihren Gläsern in den Händen herum, und niemand sagte ein Wort. Patricia sah aus wie eine kampfbereite kleine Katze.
O Gott, dachte Jessica, und die Ferien haben gerade erst angefangen!
»Ich denke ...«, begann Patricia, aber ehe sie den Satz zu Ende führen konnte, klingelte es an der Haustür.
Jessica, froh der Situation zu entkommen, stellte ihr Glas ab. »Ich gehe schon«, sagte sie und verließ das Zimmer.
Vor der Haustür stand Phillip Bowen.
»Oh«, sagte Jessica.
»Hallo«, sagte Phillip.
Sie sah ihn unschlüssig an. Barney, der ihr gefolgt war, drängte zwischen ihren Beinen hindurch und begann Phillip voll ausgelassener Freude zu umtanzen. Dieser beugte sich zu ihm hinunter.
»Hey«, rief er, »trocken siehst du richtig hübsch aus!«
»Er heißt Barney«, erklärte Jessica, »und er wird bei uns bleiben. «
»Wie schön.« Phillip richtete sich wieder auf. Er hatte denselben abgetragenen Pullover an wie bei ihrer ersten Begegnung, dieselben vollkommen ausgebleichten Jeans. Er war noch genauso schlecht rasiert und hatte auch seine Haare nicht gekämmt. Er sah nicht aus wie jemand, der einen offiziellen Besuch machen möchte.
»Ja?« fragte Jessica jetzt.
»Ich möchte zu Patricia Roth«, sagte er. Der deutsche Name hörte sich aus seinem Mund eigenartig an.
»Zu Patricia? Woher kennen Sie sie denn?«
»Ich möchte sie kennenlernen«, sagte Phillip, und in genau diesem Augenblick fiel es Jessica wie Schuppen von den Augen: Phillip Bowen! Warum war ihr das bloß nicht gleich aufgefallen? Es war der Name, den Patricia genannt hatte - der Name des Mannes, der sich als ihr Verwandter ausgegeben hatte und im Haus umherspaziert war.
»Wer sind Sie?« fragte sie mit scharfer Stimme.
»Wer ist denn da?« rief Patricia aus dem Wohnzimmer.
»Sie entschuldigen«, sagte Phillip, schob Jessica zur Seite, durchquerte die Halle und betrat das Wohnzimmer. Sie folgte ihm, ebenso verärgert wie irritiert.
Sie standen immer noch alle mit ihren Gläsern in der Hand herum, nur Evelin hatte sich in einen Sessel gesetzt und rieb sich das Kreuz, als habe ihr das lange Stehen Schmerzen verursacht. Konsterniert blickten sie auf den fremden, verwahrlosten Mann, der auf einmal vor ihnen auftauchte.
»Wer sind Sie?« fragte Leon im gleichen
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