Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
sich am Ende mit einem Kerl herum!« beharrte Patricia.
»Nicht jeder, der hier nicht ständig in der Gemeinschaft herumgluckt, muß sich herumtreiben «, erwiderte Jessica mit einer für sie ungewöhnlichen Schärfe.
Patricia ließ ihre Gabel sinken. »Was willst du damit sagen?«
»Ich will damit sagen, daß ich es durchaus verstehen kann, wenn ein fünfzehnjähriges Mädchen keine Lust verspürt, das zwanghafte Gemeinschaftsleben, wie es hier betrieben wird, zu teilen.«
» Zwanghaftes Gemeinschaftsleben? « fragte Patricia ungläubig.
»Jessica!« rief Alexander entsetzt.
Jessica dachte: O Gott, was habe ich da gesagt! Ich hätte das nicht tun dürfen!
Die Übelkeit, die schon die ganze Zeit wieder gelauert hatte, wurde unerträglich. Jessica wußte, sie würde sich auf den Tisch übergeben, wenn sie eine Sekunde länger sitzen blieb.
»Entschuldigung«, murmelte sie, stieß ihren Stuhl zurück und rannte, gefolgt von Barney, aus dem Zimmer.
Sie schaffte es bis zur Gästetoilette neben der Eingangshalle und erbrach ihr Frühstück. Als sie sich aufrichtete und in den Spiegel blickte, sah sie ein kalkweißes Gesicht mit geröteten Augen und grauen Lippen.
»Was ist nur in dich gefahren?« sagte sie zu dem Gesicht. »Du meinst doch gar nicht, was du da gerade gesagt hast!«
Oder war es am Ende genau das, was sie meinte ?
Halb hatte sie damit gerechnet, daß Alexander ihr folgen würde, aber er erschien nicht. Sie spülte sich den Mund aus und tupfte ihn mit einem Kleenex ab, benetzte ihre Stirn und ihre Wangen mit ein wenig kaltem Wasser. Als sie in die Halle zurückkehrte, vernahm sie gedämpftes Stimmengemurmel aus dem Eßzimmer.
»Sie erinnert mich immer mehr an Elena«, sagte Patricia gerade.
»Du solltest dich einmal fragen, was dich so anzieht an dieser Art Frauen, Alexander!« Das war natürlich Tim, der offenbar noch immer seiner Lieblingstheorie nachhing.
»Jetzt fallt doch nicht über sie her, nur weil sie gerade nicht da ist«, ließ sich Leon vernehmen.
»Sie sieht schlecht aus in der letzten Zeit«, sagte Evelin, »und irgendwie ist sie anders als sonst.«
»Ich finde nicht, daß sie einen allzu guten Einfluß auf Ricarda hat!« Ricarda schien derzeit Patricias Lieblingsthema zu sein. »Sie verhindert, daß du endlich einmal hart durchgreifst bei dem Mädchen. Ich beobachte das mit Besorgnis.«
Draußen in der Halle stand Jessica und grub ihre Fingernägel in die Innenseiten ihrer Handflächen.
Alexander, sag doch etwas! Sag ihnen, sie sollen den Mund halten! Sag ihnen, daß sie kein Recht haben, über mich zu reden. Daß es sie nichts angeht, wie wir leben, oder weshalb du dich in mich verliebt hast, oder ich mich in dich. Daß du mich nicht als Gegenstand ihrer Analysen sehen willst.
Aber sie hörte ihn nicht. Er sagte kein Wort.
Als sie ins Eßzimmer zurückkehrte, verstummten alle. Jeder war plötzlich über seinen Teller gebeugt und angelegentlich mit der Mahlzeit darauf beschäftigt. Jessica wich Alexanders Blick aus, als sie sich setzte. Sie fror auf einmal, und eine unbestimmte Angst war in ihr erwacht. Vielleicht hing es mit Elena zusammen. Zweimal war sie in den letzten Tagen mit ihr verglichen worden, von verschiedenen Personen. Mit der Frau, von der Alexander sich hatte scheiden lassen. Mit der er nicht länger hatte leben können. Er hatte darunter gelitten, daß sie mit seinen Freunden nicht zurechtkam. Als er ihr davon erzählte, hatte Jessica gedacht: Dies ist natürlich nicht der wahre Grund. Der liegt tiefer, aber dies ist sozusagen die Spitze des Eisbergs.
Jetzt auf einmal schoß ihr der Gedanke durch den Kopf: Und wenn das wirklich der Grund war? Wenn alles in Ordnung war bis auf das ?
Konnte das ausgereicht haben, daß sich Alexander von seiner Frau hatte scheiden lassen?
Bis zum Abend war Ricarda noch immer nicht aufgetaucht. Der Nachmittag war in einer gedrückten Atmosphäre verstrichen. Jessica wurde so sehr von Übelkeit geplagt, daß sie sich für einige Stunden ins Bett legte. Alexander saß mit den beiden anderen Männern im Garten zusammen; sie tranken Kaffee und schwiegen die meiste Zeit. Später begab sich Tim an seinen Laptop und widmete sich seiner Doktorarbeit. Patricia spielte mit ihren Töchtern Federball, ohne daß dabei jedoch die rechte Stimmung aufkam. Evelin hatte sich tief in den Park zurückgezogen, saß auf einem Steinmäuerchen und starrte in den Himmel. Es war eigenartig windstill, und die Vögel stießen aufgeregte Laute
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