Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
verlassen. Er vibrierte vor Ungeduld. Sie ging ihm entsetzlich auf die Nerven.
»Den endgültigen Beweis wird notfalls die Exhumierung bringen«, sagte er, »einen DNA-Vergleich kann niemand mehr anzweifeln.«
»Aber bist du denn sicher, daß du das so einfach erreichst? Ich
kenne mich da nicht aus, aber ich könnte mir vorstellen, daß man nicht einfach hingehen und jemanden exhumieren lassen kann. Das muß erst genehmigt werden, und dafür muß es bestimmt gute Gründe geben.«
»Meine Gründe sind ja wohl ausreichend. Ich wüßte nicht, wie jemand bessere Gründe haben sollte!«
»Du hast doch absolut nichts, was du vorweisen kannst! Du hast die Behauptung deiner verstorbenen Mutter, Kevin McGowan sei dein Vater gewesen. Aber weißt du denn ...« Sie sprach nicht weiter, biß sich auf die Lippen.
»Ja?« fragte Phillip. Seine Augen waren schmal geworden, argwöhnisch. »Ja?« wiederholte er noch einmal.
»Ich meine nur ...« Sie wünschte, sie hätte nicht damit angefangen, aber nun blieb ihr nichts übrig, als zu sagen, was sie hatte sagen wollen.
»Ich meine, du weißt doch nicht einmal, ob es wirklich stimmt, was deine Mutter dir erzählt hat«, sagte sie leise. »Sie war schon sehr krank und sehr schwach und manchmal … gar nicht ganz bei sich. Vielleicht hat sie sich in Phantasien gesteigert, und ...«
Er sah sie so voller Wut und Verachtung an, daß sie sich zum ersten Mal vor ihm fürchtete.
»Vergiß es«, sagte sie hastig, »es war nur so ein Gedanke … du kennst deine Mutter natürlich besser …«
Sie hatte die krebskranke Mrs. Bowen eine ganze Zeitlang betreut, soweit ihr Beruf das zuließ. Genaugenommen hatte sie ihren Beruf wieder einmal vernachlässigt; zu Lucys Ärger, denn diese hatte immer behauptet, sie tue das nicht für die alte Frau, sondern einzig, um sich die Liebe und Anerkennung von Phillip zu erwerben, und dies sei ein ohnehin müßiges Unterfangen. Später war es ganz schlimm geworden, und Phillip hatte seine Mutter in ein Krankenhaus bringen müssen, wo sie dann qualvolle sechs Wochen lang starb. Aber Geraldine hatte zuvor durchaus mitbekommen, daß Mrs. Bowen verwirrte Phasen hatte, in denen
sie völlig unglaubwürdige Geschichten aus ihrem Leben und ihrem Alltag zum besten gab. Warum sollte Kevin McGowan, der bekannte Fernsehkorrespondent, nicht auch eine ihrer Wunschvorstellungen gewesen sein, mit denen sie ihr Leben, das sie selber einmal als mißlungen bezeichnet hatte, anzureichern versuchte?
Aber unmöglich, mit Phillip darüber zu sprechen, nicht, nachdem er sich in die Geschichte seiner Mutter hineingesteigert hatte und Hoffnung für seine Zukunft daraus schöpfte.
»Warte nicht auf mich«, sagte er nun, »ich weiß nicht, wann ich wiederkomme.« Er zog die Tür hinter sich zu.
Sie war allein. Sie hatte Angst.
Leon beobachtete seine Frau. Sie war mit dem Klingeln des Weckers um Punkt acht Uhr aus dem Bett gesprungen und im Bad verschwunden, wo sie kalt duschte und ihren Körper dann mit einer harten Bürste abrubbelte, um die Durchblutung zu fördern und das Gewebe zu straffen. Nun kehrte sie ins Zimmer zurück, um sich anzuziehen. Nackt schlenderte sie zum Schrank, aber er wußte, daß sie ihn damit nicht provozieren wollte. Eher war es Ausdruck ihrer beider Entfremdung. Als Mann war er gar nicht mehr vorhanden für sie. Er mußte sich selbst jedoch eingestehen, daß er daran nicht unschuldig war.
Ihr Körper war perfekt. Sie war so klein, daß jedes überflüssige Gramm Fett ins Auge gesprungen wäre, aber da war an keiner Stelle etwas, was dort nicht hingehörte. Mit einunddreißig Jahren und nach der Geburt von zwei Kindern sah sie noch immer aus wie ein junges Mädchen. Nicht allerdings im Gesicht, wie er wieder einmal feststellte. Der Ausdruck ihres Gesichts verriet Härte, Selbstbewußtsein, eisernen Willen und eine ungeheure Disziplin.
Sie zog Unterwäsche an - weiße, saubere Baumwolle -, Jogginghosen und ein schwarzes T-Shirt, auf dem vorne in weißen Lettern der Schriftzug It’s me prangte.
»Willst du nicht aufstehen?« fragte sie, während sie vor dem Spiegel über der Kommode ihre Lippen in einem tiefen Rot anmalte. »Es ist zwanzig nach acht.«
Leon gähnte. »Es sind Ferien. Das scheinst du immer wieder zu vergessen.«
»Um neun Uhr ist Frühstück. Das ist vereinbart.«
»Eben. Was soll ich da schon um zwanzig nach acht? Was machst du bis dahin?«
»Ich gehe joggen. Würde dir übrigens auch ganz guttun.«
Leon gähnte noch
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