Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
und sie wollte es gerne wiedersehen. Schon von weitem sah sie eine Gestalt auf dem Hügel sitzen, und ein Instinkt sagte ihr, daß es Phillip sein mußte. Sie wollte schon umkehren, aber er mußte ihre Nähe gespürt haben, denn er wandte sich plötzlich um und winkte ihr zu. Sie hatte den Eindruck, es bliebe ihr nichts übrig, als zu ihm zu gehen, aber sie hatte ein ungutes Gefühl dabei. Sich mit ihm zu unterhalten kam ihr wie ein Verrat an Patricia vor, die beim
Frühstück verkündet hatte: »Wir werden einfach nicht mit ihm reden. Ich möchte euch alle bitten, euch daran zu halten. Er darf seine obskuren Geschichten gar nicht erst loswerden. Wenn er das Grundstück betritt, wird er sofort hinausgewiesen. Er muß schon juristisch gegen mich vorgehen, wenn er etwas erreichen will, und das ist ein langer Weg. Er sieht mir aus wie einer, dem dazu schon allein die finanziellen Mittel fehlen.«
Jessica wußte, sie hätte ihn ignorieren und einfach weitergehen müssen, aber sie fand das schwierig einem Mann gegenüber, der ihr noch vor kurzem als ein Retter in der Not erschienen war und ihr überdies nicht das geringste getan hatte. Er hatte Ärger mit Patricia - aber welchen Grund hatte sie letztlich, für Patricias Interessen zu kämpfen?
»Sie hätten mich ruhig vorwarnen können«, sagte sie, als sie sich neben ihn setzte, »nachdem Sie erfahren hatten, daß ich in Stanbury House wohne!«
»Dann hätten Sie wiederum Patricia vorgewarnt.«
»Na und? Was hätte sich für Sie geändert? So oder so beißen Sie bei ihr auf Granit. Oder haben Sie geglaubt, sie schließt Sie freudig in die Arme und jubelt, weil sie nun ihr Erbe mit Ihnen teilen darf?«
»Sie wird nachgeben müssen.«
»Sie wird Sie nicht einmal anhören.«
Er hatte sie angesehen und gegrinst, aber seine Augen waren von diesem Grinsen unberührt geblieben. »Sie ist ein harter Brocken, wie?«
»Sie weiß sich zu behaupten.«
Phillip begann ein paar Grashalme auszurupfen und miteinander zu verknoten. »Eine merkwürdige Atmosphäre war das gestern abend«, sagte er. »Ich kam in das Zimmer und sah mich diesen vielen Menschen gegenüber, von denen es im Dorf heißt, sie seien die besten und engsten Freunde, seit vielen Jahren schon, und ich hatte das Gefühl: Da stimmt etwas nicht. Das alles ist nicht echt. Da war so viel Spannung, so viel unterschwellige
Aggression. So vieles, was … ja, was einfach irgendwie nicht zusammenpaßte, ohne daß ich im einzelnen hätte sagen können, was es ist. Aber ich kenne ja auch niemanden genauer.« Er sah wieder zu ihr hin. »Verstehen Sie, was ich meine?«
Sie hatte das ungute Gefühl, ihn durchaus zu verstehen.
»Nein«, sagte sie und sah ihm an, daß er ihr nicht glaubte.
»Diese dicke Frau«, sagte er, »Sie wissen schon, in so einem Hängekleid, das wahrscheinlich ein Vermögen gekostet hat - sie sieht entsetzlich traurig aus. Nein«, er schüttelte den Kopf, »mehr als traurig. Irgendwie … hoffnungslos. Ja, das ist es. Hoffnungslos. Als sei etwas abgestorben in ihr.«
»Evelin.« Sie wunderte sich über seine Beobachtungsgabe. Und über die treffende Formulierung, obwohl er selbst kaum wissen konnte, wie treffend sie tatsächlich war. Als sei etwas abgestorben in ihr …
»Sie hat vor einigen Jahren ihr Baby verloren«, sagte sie, »im fünften oder sechsten Monat ihrer Schwangerschaft. Sie war dann lange Zeit depressiv, und manchmal denke ich, sie ist es bis heute. Und offensichtlich klappt es einfach nicht mit einem neuen Baby.«
Er nickte. »Sie wirkt sehr einsam. Patricia übrigens auch.«
»Patricia? Die ist voller Unternehmungsgeist und ständig auf Achse und kennt Gott und die Welt …«
»Das heißt nicht, daß sie nicht einsam ist. Sie macht eine ungeheure Show um sich und ihr phantastisch intaktes Familienleben. Ich habe ihr Schlafzimmer gesehen, als ich im Haus war. Noch nie hat mich so viel gerahmtes, strahlendes Familienleben auf einmal angesprungen. Ein wenig zu demonstrativ, zu aufgesetzt. Dieser Schönling, mit dem sie verheiratet ist, wirkt nicht gerade verliebt in sie.«
»Sie machen sich ja eine Menge Gedanken«, sagte Jessica unbehaglich, »und ich weiß nicht, ob Sie das alles gerade mit mir besprechen sollten. Wir kennen einander kaum.«
»Glauben Sie mir?«
»Was? Daß Sie einen Anspruch auf Stanbury House haben?«
»Ja.«
»Wie ich sagte: Wir kennen einander kaum. Woher soll ich das wissen?«
»Was wissen Sie über Kevin McGowan?«
»Patricias Großvater? Ich weiß
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