Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
habe versucht zu joggen heute früh, aber …«
Sie sprach nicht weiter.
Ihr Unglück ist, daß sie etwas sein will, was sie nicht ist, dachte Leon mitleidig, sie will so sportlich, so trainiert, so schlank und attraktiv sein wie Patricia - aber sie packt es einfach nicht. Sie versucht mit ihren neunzig Kilo das zu tun, was Patricia mit ihren fünfzig tut, und jedesmal erleidet sie Schiffbruch.
»Joggen soll gar nicht gesund sein«, sagte er.
»Jedenfalls nicht, wenn die Gelenke zuviel Gewicht tragen müssen«, fügte Tim hinzu.
Seiner Frau schossen die Tränen in die Augen. Sie machte auf dem Absatz kehrt und hinkte die Treppe wieder hinauf. Oben flog die Tür ins Schloß.
Vom Hof her waren Motorgeräusche zu hören, gleich darauf kamen Diane und Sophie herein. Wie stets beide im schicken Reitdreß, aber mit völlig verheulten Gesichtern, geröteten Wangen und schniefenden Nasen. Sie liefen wortlos an ihrem Vater und Tim vorbei, und kurz darauf knallte oben abermals eine Tür.
»Patricia hat mit ihnen gesprochen«, schloß Leon resigniert.
»Ich möchte Ihnen etwas über meinen Vater erzählen«, sagte Phillip. Sie hatten den umgestürzten Baumstamm verlassen, gingen nebeneinander langsam den Weg entlang. Phillip hatte beide Hände in den Hosentaschen. Es war ungewohnt für Jessica, ihn so zu sehen: mit untätigen Händen.
»Ich habe eine Menge Material über ihn zusammengetragen, nachdem ich … es wußte. Vieles hat mir meine Mutter erzählt, aber da er in gewisser Weise eine Person des öffentlichen Lebens war, ist doch in einer Reihe von Zeitungsarchiven einiges über ihn zu finden gewesen. Er hatte ein steifes Bein. Es rührte von einem Autounfall her, in den er als Zwanzigjähriger verwickelt war. Sein Leben lang konnte er nicht richtig laufen. Er zog immer das Bein nach.«
Sie sah ihn überrascht an. Erstaunt, daß es diese Behinderung seines Vaters war, von der er zuerst sprach.
Er bemerkte ihren Blick. »Es war der Ausgangspunkt«, erklärte er, »die Weichenstellung. Dafür, daß es ihn nach Deutschland verschlug.«
Sie begann sich dunkel zu erinnern. Patricia sprach nicht viel über ihren Großvater, aber irgend etwas hatte sie einmal erzählt. »War er nicht bei der französischen Résistance ?« fragte sie. »Ich meine, so etwas gehört zu haben.«
»England und Deutschland befanden sich im Krieg, und er durfte nicht teilnehmen. Wehruntauglich, klar, ein Mann, der sich
nur humpelnd vorwärtsbewegen konnte und häufig unter starken Schmerzen litt … Ihn muß die Situation fast um den Verstand gebracht haben. Er war ein ganz junger Mann, glühender Patriot damals, was sich übrigens später durchaus etwas änderte, aber zu jener Zeit … Er verehrte Winston Churchill und die Unbedingtheit, mit der dieser den Krieg zu führen gedachte, und er wollte unter allen Umständen daran teilnehmen. Über die Kanalinseln, glaube ich, gelang es ihm, Kontakt mit dem französischen Widerstand aufzunehmen. Er ging dann hinüber aufs Festland, begann eine illegale Existenz in Frankreich mit falschen Papieren und unter erheblichen Risiken. Eine äußerst gefährliche und abenteuerliche Zeit. Es gibt viele Interviews, in denen er darüber spricht. Irgendwie hatte ich beim Lesen das Gefühl, daß er es trotz allem bis zum Schluß für die beste Zeit seines Lebens hielt.«
»Sicher war es die intensivste Zeit«, sagte Jessica.
»Und die Zeit einer großen Liebe«, fuhr Phillip fort, »er lernte eine Deutsche kennen, eine junge Frau, die als Funkerin mit den Truppen nach Frankreich gekommen war. Später betonte er immer wieder, sie sei nicht in der Partei gewesen und sowieso nicht im mindesten von der Naziideologie infiziert, aber … na ja, wer weiß! Vielleicht stimmte es. Vielleicht war es wirklich eine Frau, ein junges Mädchen fast noch, die einfach von daheim wegwollte, die Abenteuer erleben wollte und der in jenen Zeiten nichts Besseres einfiel, als mit der Wehrmacht nach Frankreich zu ziehen. Ohne groß darüber nachzudenken. So hat er es jedenfalls immer dargestellt.«
»Damals, so mittendrin«, meinte Jessica, »war es für die Menschen, besonders die jungen Menschen, vielleicht oft schwieriger, die Geschehnisse so zu überblicken, wie wir das heute können.«
»Ich denke, vieles wurde auch hinterher geschönt«, meinte Phillip, und Jessica überlegte, ob er Aggressionen empfand der Frau gegenüber, mit der seinen Vater eine große Liebe verbunden hatte - während seine Mutter nur ein kurzes
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