Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
Vater näher als auf dem Friedhof. Hier sah er Eigenschaften des Verstorbenen, die er zu seinem Erstaunen nach und nach auch in sich selbst lebendig werden fühlte: Naturverbundenheit. Stabilität. Ruhe. Selbstbesinnung. Von all dem war er früher meilenweit entfernt gewesen. Immer nur die großen Metropolen der Welt, immer neue, interessante, abgedrehte Menschen, Schauspieler, Fotografen, Models … die Junkieszene zusammen mit Sheila … Hätte ihm damals jemand erzählt, er werde sich eines Tages für einen alten Landsitz in einer der einsamsten Gegenden des Landes erwärmen, er hätte es für einen guten Witz gehalten und laut gelacht. Undenkbar, unvorstellbar. Es begann sich etwas zu wandeln in ihm. Ironischerweise ging diese Veränderung durchaus in die gleiche Richtung, die Geraldine auch anstrebte. Nur daß sie ihm mit Siebenmeilenstiefeln vorausrannte. Er war einfach nicht soweit wie sie. Er wußte nicht, ob er es je sein würde.
Ein Geräusch ließ ihn aufmerken. Es schien von jenseits des Tores zu kommen, und im ersten Moment dachte er, es sei ein Fuchs oder eine Katze, die er dort entlanghuschen gehört hatte. Aber dann begriff er, daß jemand den Weg entlanglief. Hastete, fast rannte.
Er wich in den dunklen Schatten der Büsche zurück, die hier wucherten. Es mußte inzwischen nach zwölf Uhr sein, und er fragte sich, wer um diese Zeit noch unterwegs sein mochte. Jessica vielleicht, mit ihrer Leidenschaft für frische Luft und lange Wanderungen? Ob sie inzwischen sogar schon nachts in der Gegend herumstapfte?
Das Tor öffnete sich quietschend. Jemand huschte hinaus.
Phillip hatte nicht vor, sich zu zeigen, aber die andere Person blieb plötzlich abwartend stehen. Vielleicht hatte sie eine Bewegung von ihm wahrgenommen, seinen Atem gehört oder das Knacken eines Zweiges. Sie schien angestrengt in die Dunkelheit zu starren.
»Keith?« flüsterte sie dann. Es war die Stimme einer Frau.
Es gab keinen Grund für ihn, sich zu verstecken, zumal die Frau jeden Moment näher treten und ihn entdecken konnte. Also schob er sich aus dem Schutz des Dickichts hervor. Im Mondlicht sah er ein junges Mädchen, das ihn entsetzt anstarrte. Das Mädchen trug Jeans und Pullover und hatte einen Rucksack seitlich über eine Schulter gehängt. Eine attraktive Person, groß und sehr schlank, mit langen, dunklen Haaren. Erinnerte ihn ein wenig an Geraldine.
»Hi«, sagte er.
Sie machte riesige Augen und schien wie paralysiert zu sein.
Er hob beide Hände in einer Geste der Friedfertigkeit. »Keine Angst! Ich bin kein Triebtäter! Ich heiße Phillip Bowen. Man hat Ihnen sicher von mir erzählt.« Er wies in Richtung des Hauses.
Das Mädchen entspannte sich. »Ja. Ja, dann weiß ich, wer Sie sind. Ich dachte erst schon, mein Freund wartet vielleicht auf mich … Was tun Sie denn hier?«
»Ich denke nach«, sagte Phillip, und offenbar reichte ihr das als Erklärung, denn sie fragte nicht weiter, sondern machte ein paar unschlüssige Schritte von ihm weg.
»Na ja, dann …« meinte sie.
Sie erschien ihm ziemlich jung, um in tiefster Nacht allein herumzulaufen, auch irritierte ihn der prall gefüllte Rucksack. Es sah fast so aus, als ginge sie für länger fort, und die Tatsache, daß sie ihren Aufbruch auf diese Uhrzeit gelegt hatte, weckte den Verdacht in ihm, daß niemand davon wußte und wissen sollte.
»Und was machen Sie?« fragte er.
Ihr Gesicht wirkte plötzlich feindselig. »Das geht Sie doch wohl nichts an!« fauchte sie.
Sie hatte recht, und er kam sich wegen seiner Frage auf einmal alt und spießig vor.
»Viel Glück«, sagte er, aber sie antwortete ihm nicht, sondern ging weiter, mit großen, eiligen Schritten. Jemand, der Stanbury House unbedingt verlassen wollte. Während er unbedingt hineinwollte.
Er setzte sich auf einen Baumstumpf, riß Grashalme aus, verknotete sie und starrte das Tor an, als lägen dahinter alle Antworten auf seine ungelösten Fragen.
Vielleicht nur ein gigantischer Irrtum, dachte er.
»Ich habe gewußt, daß du kommen würdest«, sagte Keith.
Er hatte noch nicht geschlafen, hatte auf dem Sofa gesessen und auf das Knurren seines Magens gelauscht. Um ihn herum brannte ein Meer von Teelichtern. Früher hatte er manchmal darüber gelesen, daß Menschen vor Hunger nicht schlafen konnten, aber er hatte sich nie vorstellen können, wie sich das anfühlte. Jetzt wußte er es. Er hatte mörderischen Hunger. Er war ohne Frühstück aus dem Haus gegangen und hatte auch später
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