Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
es nach Sommer zu riechen begann.
Trotzdem hatte sie Angst.
Sie wollte nicht mehr zurück, darin war sie sicher. Aber es kam ihr wie ein großer, vielleicht zu großer Schritt vor, alles hinter sich abzubrechen und sich in ein ungewisses Leben mit Keith zu stürzen. Sie ließ ihre Familie zurück, die Schule, ihre Freunde in Deutschland. Die Basketball-Mannschaft. Alles, was zu ihrem Leben, zu ihrem Alltag gehört hatte. Wenigstens Elena würde sie anrufen müssen, sonst würde diese verrückt vor Sorge, und sie hatte ihr schließlich nichts getan. Papa würde sie natürlich nicht anrufen!
Papa …
Ihr krampfte sich das Herz zusammen, wenn sie an ihn dachte. Zweimal gestern abend hatte er ihr ein Messer ins Herz gestoßen:
als er tatenlos danebenstand, während Patricia aus dem Tagebuch vorlas. Und als er stolz verkündete, daß J. ein Baby bekommen würde. Zweimal verraten. Zweimal auf eine nicht wiedergutzumachende Weise.
Ihr fiel etwas ein, das Elena ihr vor nicht allzu langer Zeit gesagt hatte. Sie hatte wieder einmal unter Tränen wissen wollen, wieso sich ihre Eltern hatten scheiden lassen, und Elena hatte zögernd erklärt: »Weißt du, er stand nie wirklich zu mir. Nicht wenn es gegen die anderen gegangen wäre. Patricia, Leon und die restliche Meute. Ihnen gegenüber ließ er mich fallen wie eine heiße Kartoffel, wenn ich mit ihnen auf Konfrontation ging. Er hat mir damit sehr, sehr weh getan. Und es ist mehr als einmal passiert - wesentlich mehr!«
Sie hatte noch lauter geweint. Sie wollte zwar immer wieder und wieder wissen, warum es schiefgegangen war zwischen Alexander und Elena, aber sie wollte als Antwort nie ein böses Wort über Alexander hören. Sie hoffte immer, es sei irgendeine fremde, bedrohliche Macht, die zwischen ihren Eltern Intrigen gestiftet hätte. Eine Macht, die man entlarven und deren Ränkespiele man nachträglich würde bagatellisieren können. Dann könnten die beiden wieder zusammenkommen, und alles wäre wie früher.
Seit dem gestrigen Abend hatte sie zum erstenmal eine klare Vorstellung von dem, was Elena gemeint hatte. Zum erstenmal dachte sie, daß ihr Vater schwach war, ein willfähriges Werkzeug in den Händen seiner Freunde. Etwas sagte ihr, daß Elena, die unabhängige, stolze, aufrechte Elena, niemals zu einem solchen Mann zurückkehren würde.
Und außerdem, dachte sie voller Trauer, kommt ja nun auch ein neues Baby.
»He, Kleines!« Keith stupste sie von der Seite an. »Du siehst ja total betrübt aus! Was ist los?«
»Nichts!« Sie riß sich aus ihren Gedanken, versuchte zu lächeln. »Ich glaube, ich habe nur Hunger. Und Durst. Können wir nicht irgendwo anhalten und etwas frühstücken?«
Er nickte. »Da kommt bald eine Raststätte. He!« Er lachte. »Von nun an frühstücken wir jeden Morgen zusammen! Jeden einzelnen Morgen unseres Lebens!«
24
Leon hatte sein Handy auf dem Schoß liegen. Er saß sehr aufrecht, starrte durch die Windschutzscheibe hinaus in den sonnigen Tag. Vor ihm breitete sich ein zauberhaftes, an drei Seiten von Wald umsäumtes Tal aus, in dem eine Schafherde graste, aber er nahm Schönheit und Frieden der Landschaft nicht wahr. Alles um ihn herum schien ihm dunkel und hoffnungslos.
Er hatte sich so weit von Stanbury House entfernt, wie er nur konnte. Unsinnig weit, denn schon bald nachdem er das Gelände dort verlassen hatte, hätte niemand mehr ihm folgen und das Gespräch mit dem Bankdirektor anhören können. Aber er hatte es nicht fertiggebracht, anzuhalten. Es war wie eine Flucht gewesen; ob vor den anderen, vor sich selbst oder dem Leben überhaupt, das wußte er nicht. Irgendwann war er auf einen Schotterweg abgebogen und zwischen hochgewachsenen Bäumen entlanggeholpert, bis plötzlich der Weg endete und sich in dieses liebliche Tal öffnete, ein Ort, der das Ende der Welt hätte sein können, so fern und unberührt erschien er. Leon hatte endlich angehalten, den Kopf für einen Moment in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen. Er hatte wieder leichte Schmerzen in der Herzgegend. Es gab Minuten, in denen er wünschte, durch einen Infarkt von allen Problemen erlöst zu sein.
Dann hatte er die Nummer seines Bankdirektors und Tennisfreundes in das Handy getippt und alle Kraft zusammengenommen. Er hatte versucht, optimistisch und fröhlich zu klingen, so als habe er im Grunde keine wirklichen Schwierigkeiten. Wenn der Bankdirektor das Gefühl hatte, er sehe die Dinge positiv,
würde ihn dies vielleicht überzeugen, und
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