Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
ungewöhnlich, daß alle anderen in der Zwischenzeit weggegangen sein sollten. Obwohl - Patricia war ja zurückgeblieben, und daß einer vorbeikommen und sie töten würde, hatte niemand ahnen können.
Daß einer vorbeikommen würde …
Vielleicht war es wirklich ein furchtbarer, tragischer Zufall. Ein Verrückter, ein Perverser war durch die Gegend gestreift, hatte die einsame Frau entdeckt, und … Kälteschauer jagten über Jessicas Körper.
Wenn sich ein Triebtäter hier herumtrieb, sollte sie nicht im Hof stehenbleiben.
Ihr fiel auf, daß eines der beiden Leihautos fehlte. Sie waren also weggefahren. Sie würden wiederkommen, aber bis dahin sollte sie sich unbedingt im Haus verbarrikadieren und die Polizei anrufen. Immerhin sangen die Vögel noch nicht wieder. Das sprach dafür, daß er noch in der Nähe war. Tiere hatten einen Instinkt für Gefahr.
O Gott, ihre Blase krampfte plötzlich. Jeden Moment würde sie vor Angst einfach lospinkeln.
Sie rief ganz leise Barneys Namen. Sie wollte niemanden auf sich aufmerksam machen. Der Hund knurrte wieder, kam langsam und widerwillig auf sie zu.
»Komm, Barney, komm«, lockte sie flüsternd, »alles in Ordnung. Sei lieb. Komm mit Frauchen!«
Sie huschte zum Haus hinüber, das ihr auf einmal riesig groß, düster und bedrohlich vorkam. In seinem Schatten war es viel kühler als in der Sonne, fast eisig. Jessica wurde noch immer von Kälteschauern überflutet. Sie hatte Bauchschmerzen. Sie mußte auf die Toilette. Vielleicht würde sie sich übergeben.
Die Haustür war nicht abgeschlossen. Barney verharrte auf der Schwelle, knurrte erneut. Sein gesträubtes Fell war am Nacken feucht. In seinen Augen flackerte Angst.
Und wenn der Typ da drin war?
»Okay«, flüsterte sie, »du wartest hier. Ich hole den Schlüssel. «
Den Schlüssel des verbleibenden Autos. Und dann nichts wie weg. Fraglich, ob sie es zu Fuß schaffen konnte. Sie mußte das Risiko eingehen.
In der Halle war es kühl und dunkel. Ihre Augen brauchten einen Moment, um sich an das Dämmerlicht zu gewöhnen. Sie tastete sich langsam vorwärts, bemüht, keinen Laut von sich zu geben.
Vielleicht hätte sie doch lieber schnell weglaufen sollen.
Die Schlüssel hingen an einem Brett in der Küche - Schlüssel für die Haustür, für den Geräteschuppen, für das Parktor (obwohl es nie geschlossen wurde). Jessica betete, daß sie den Autoschlüssel nach ihrer Fahrt mit Evelin ins Dorf dorthin zurückgehängt hatte; ganz sicher war sie sich nicht. Vielleicht lag er auch noch in ihrer Handtasche, und die war oben in ihrem Schlafzimmer, wohin sie sich ganz sicher nicht begeben würde.
Die Küchentür stand halb offen. Sie huschte hinein und wäre beinahe über Tim gestolpert, der, mit dem Gesicht nach unten, hingestreckt auf dem Fußboden lag. Er schwamm in einer Lache von Blut. Seine nackten, stark behaarten Beine waren seltsam gespreizt. Die Küche stank nach Urin.
Sie starrte ihn wie hypnotisiert an, im ersten Moment eher überrascht als erschrocken, so als sehe sie etwas, das zwar ungewöhnlich, aber nicht wirklich grauenerregend war. Dann dämmerte ihr nach und nach, was es bedeutete, auch Tim abgeschlachtet vorzufinden; es hieß, daß hier eine Bestie ihr Unwesen getrieben hatte, nicht einfach nur ein Triebtäter, sondern ein abartiger Schlächter, und es legte den furchtbaren Verdacht nahe, daß er sich nicht mit Patricia und Tim begnügt hatte und daß die unheimliche Stille über dem Park und dem Haus mehr bedeutete als nur die von Jessica zuerst angenommene Möglichkeit, daß alle weggefahren waren. Das Auto konnten auch der oder die Täter benutzt haben.
Am Ende waren alle tot. Alle. Nur sie nicht und Barney.
Sie hatte von Sekten gehört. Von Ritualmorden. Gerade in England. Gerade auf dem Land. Es kam nicht einmal allzu selten vor.
Sie dachte an Alexander, und alle Vorsicht verließ sie. Trotz allem, trotz aller Enttäuschung, allen Streits, all der Frustrationen, die die letzten Tage mit sich gebracht hatten, war die Vorstellung, er könne nicht mehr dasein, unfaßbar und unerträglich. Sie lief aus der Küche.
»Alexander!« schrie sie. Ihre Stimme hallte in der völligen Stille des Hauses. »Alexander! Ich bin es! Jessica!«
Sie blieb stehen, lauschte. Die Halle schien sich um sie zu drehen. Niemand gab Antwort.
Es durfte nicht wahr sein! Irgendwo in ihrer Brust entstand ein Schluchzen, das sie mit aller Gewalt unterdrückte, weil sie wußte, daß Tränen sie nicht weiterbrachten,
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