Am Ende des Schweigens - Link, C: Am Ende des Schweigens
sie war am Leben.
Es war nicht möglich, sie zu bewegen.
Jessica redete mit ihr, versuchte sie auf die Beine zu ziehen.
»Wir müssen verschwinden. Evelin, bitte. Wer immer das getan hat, er ist vielleicht noch in der Nähe !«
Evelin sagte nichts. Hin und wieder stieg ein leiser Klagelaut aus ihrem Mund, aber sie schien nicht in der Lage, Worte zu formen oder ganze Sätze zu sprechen. Schon gar nicht vermochte sie aufzustehen.
Jessica hatte sie eilig untersucht, dabei festgestellt, daß sie nicht verletzt war. Das bedeutete, daß sie dicht an eine oder mehrere der Leichen herangetreten sein mußte, denn sonst hätte sie nicht von Kopf bis Fuß mit Blut beschmiert sein können. Jessica vermutete, daß sie versucht hatte herauszufinden, ob Patricia, Tim oder Diane noch am Leben waren, und sich dabei beschmutzt hatte. Wobei die Frage blieb, ob sie auch Tim bereits gefunden hatte. Wußte Evelin, daß ihr Mann tot war?
»Evelin, ich werde jetzt hinuntergehen und die Polizei anrufen. « Es hatte keinen Sinn, sie zur Flucht überreden zu wollen. Sie stand vollkommen unter Schock, war vermutlich kaum in der Lage zu begreifen, wer mit ihr sprach und worüber. Also würde Jessica nichts anderes übrigbleiben, als noch einmal allein bis hinunter in die Halle zum Telefon zu laufen, Polizei und Notarzt zu rufen und dann so schnell wie möglich wieder auf den Dachboden zu flüchten. Ihr graute davor, aber sie konnte nicht ewig hier oben sitzen und darauf warten, daß Evelin aus ihrer Erstarrung erwachen würde.
Sie verließ das Bad, vermied den Blick in das Zimmer, in dem Diane tot auf dem Bett lag. Mit angehaltenem Atem lauschte sie in die Tiefen des Hauses. Nichts rührte sich.
Alexander. Wenn doch nur Alexander noch am Leben wäre!
Sie huschte die beiden Treppen hinunter. Die Küchentür stand halb offen, sie konnte Tims Hand auf dem Fußboden sehen. Sie hatte weiche Knie, aber immerhin brachte sie es fertig, herumzulaufen und einigermaßen vernünftige Dinge zu tun. Vielleicht lag es an ihrem Beruf als Tierärztin. Sie hatte immer wieder mit jeder Menge Blut zu tun gehabt.
Ihre Stimme war ein heiseres Wispern, als sich der Beamte am anderen Ende der Leitung meldete.
»Können Sie herkommen? Bitte, schnell. Stanbury House. Wir brauchen auch einen Notarzt.«
»Sprechen Sie lauter. Wohin sollen wir kommen?«
»Stanbury House. Es liegt …«
»Ich weiß, wo das ist. Was ist denn passiert?«
Ihr war klar, wie verrückt es klingen mußte, was sie erzählte. »Hier liegen drei Tote. Vielleicht noch mehr, das weiß ich nicht. Eine Frau steht unter Schock. Der Typ, der das getan hat, ist vielleicht noch in der Nähe. Bitte, beeilen Sie sich!«
Seine Zweifel waren durch den Apparat förmlich spürbar. » Drei Tote?«
»Ich habe keine Ahnung, was passiert ist. Ich war weg, und als ich wiederkam, habe ich drei Tote gefunden. Mein Mann ist verschwunden, und seine Tochter auch, und der Mann meiner Freundin …« Sie holte tief Luft. »Bitte«, stieß sie hervor, »bitte kommen Sie, so schnell Sie können!«
»Alles klar«, sagte er und legte auf.
Gleich werden sie da sein. Alles wird in Ordnung kommen.
Nichts würde in Ordnung kommen. Die Schrecken dieses Tages würden für immer über ihr liegen. Sie würde die Bilder nie vergessen, und nie die Gedanken an das Grauen, das ihnen zugrunde lag. Nichts würde je wieder sein, wie es gewesen war. Und noch immer wußte sie nicht, ob Alexander am Leben war.
Sie hörte ein Geräusch und fuhr herum. Sie erwartete, dem Killer gegenüberzustehen, aber statt dessen sah sie nur, wie sich die Tür zum Eßzimmer langsam bewegte. Im ersten Moment glaubte sie - hoffte sie -, der Wind habe sie angestoßen. Doch dann fiel ihr Blick auf die kleine Gestalt, die um die Tür herum, flach auf den Boden gepreßt, aus dem Zimmer gekrochen kam. Es war Sophie. Sie war blutüberströmt und brach auf der Schwelle reglos zusammen.
Sie lebte.
2
Phillip hatte natürlich gewußt, daß er Geraldine nicht ewig würde aus dem Weg gehen können, hatte den Moment jedoch gefürchtet und auf eine unsinnige Weise gehofft, er werde vielleicht gar nicht eintreten. Dabei kannte er sie zu genau: Ohne eine weitere Aussprache mit ihm würde sie nicht abreisen. Ganz abgesehen davon hatte er ihr durch das Ausleihen des Wagens selbst die Möglichkeit gegeben, guten Gewissens in Stanbury auszuharren.
Er hatte das Auto geparkt und betrat den Empfangsraum des The Fox and The Lamb und stieß dabei gleich hinter
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