Am Ende des Tages
sich. Sein Herz schlug dröhnend gegen seine Rippen. Er klammerte sich an das Geländer, und für einen Moment war nichts als taube Leere in seinem Gehirn. Im gleichen Augenblick wurde ihm wieder bewusst, was ihn in diesen fiebrigen Aufruhr versetzte. Und dass es nicht allein das Gefühl eines nahenden Unheils war, was ihn bereits seit Tagen peinigte.
Es war Scham. Vor kurzem hatte er etwas getan, was er noch nie getan hatte. Von dem er sich nie hatte vorstellen können, dass er dazu fähig wäre.
Der junge Bauer spürte erneut, wie seine Augenwinkel vor hilflosem Zorn feucht wurden. Er schniefte, verachtete sich dafür, dass er einmal schwach geworden war. Und fast noch mehr dafür, dass es ihm zu schaffen machte.
Ein gestandenes Mannsbild wollte er sein? Lächerlich, was er sich da vorwarf! Wurde nicht überall auf der Welt getrickst, mal weniger, oft mehr? Wer von den Leuten im Dorf konnte wirklich von sich behaupten, seine Weste sei rein? Waren es nicht gerade die Frömmler, über die man sich hinter vorgehaltener Hand die schlimmsten Verfehlungen erzählte? Und da verging er wie ein greinender Betbruder vor Scham, schiss sich wie ein Schulbub aus Angst vor Bestrafung in die Hose? Wegen eines lächerlichen Fehltritts, bei dem er niemand wirklichen Schaden zugefügt hatte, für den es nie einen Beweis oder Zeugen geben würde?
Außerdem waren es nicht Gier und Bosheit gewesen, die ihn dieses eine Mal dazu gebracht hatten, gegen seine Prinzipien zu handeln. Nur aus Liebe zu einem Menschen, der ihm alles bedeutete und um den er sich sorgte, hatte er es getan. Gegen ein Gebot, ein Gesetz mochte er dabei verstoßen haben. Nicht aber gegen die Gerechtigkeit.
Aber war er wirklich gerissen genug vorgegangen? Was wäre, wenn seine Tat doch einmal ans Tageslicht käme? Was, wenn er übersehen hatte, dass man ihm längst auf den Fersen war? Vielleicht würde er bei einigen im Dorf noch auf Mitleid und Verständnis stoßen, aber auch das wäre nicht gewiss. Und würde ihm nicht helfen, wenn er vor dem Richter stände. Das Urteil würde ihn nicht den Kopf kosten, aber es würde ihn vernichten. Alles würde er verlieren. Man würde ihn meiden, mit dem Finger auf ihn zeigen. Auf ewig würde das Zeichen des Ehrlosen auf seiner Stirn brennen.
Valentin holte tief Atem. Er schüttelte den Kopf. Nein. Es bestand keine Gefahr. Zugegeben, für allzu Raffiniertes war er von je zu einfach gestrickt, alle halbscharigen Winkelzüge waren ihm immer zuwider gewesen. Aber er war kein Dummkopf. Hätte es auch nur das geringste Risiko gegeben, dass man ihn ertappen könnte, wäre er dieses Wagnis niemals eingegangen.
Die Kälte machte sich wieder bemerkbar. Valentin fasste sich, löste seine Finger vom Geländer und ging weiter. Im Erdgeschoss angekommen, stellte er die Lampe ab, nahm die Jagdflinte vom Haken, drückte die Klinke der Haustüre herab und trat ins Freie.
Milchiges Mondlicht beschien die Rodung. Die Luft war kalt und scharf. Sie roch nach dem Schnee, der seit Wochen bereits die Gipfel bedeckte. Valentin hob den Kopf. Sein dampfender Atem schwebte in Wölkchen zum schwarzblauen, von flirrendem Gestirn gestanzten Himmel. Im Unterland heulte ein Hund heiser auf, das Echo brach sich an den Wänden des Hochtals und erstarb. Einen Augenblick war es Valentin, als würde sich die Erde nicht mehr drehen. Dann hörte er wieder das Rauschen des Bergwaldes. Kälte kroch seine Waden empor. Nichts bewegte sich.
Ich hab mich geirrt, dachte er. Ich bin einfach überreizt, das ist alles.
Valentin ging in das Haus zurück, zog die Tür ins Schloss, schob den Riegel vor und hängte die Flinte zurück. In diesem Moment erschauerte er von einem eisigen Luftzug. Die Kerzenflamme flackerte auf und verlöschte. Valentin starrte in die Dunkelheit. Die Zugluft kam von der Tür, die den Wohntrakt vom Stall abtrennte.
Valentin gab einen verärgerten Laut von sich. Die verdammte Seitentür, dachte er. Nicht nur, dass sie sich seit einiger Zeit nicht mehr verriegeln ließ, jetzt schwang sie offensichtlich schon bei der leisesten Luftbewegung auf. Wenn der Schmied nur endlich Beschlag und Schloss reparieren würde, seit Wochen verspricht er es, immer sind ihm andere Aufträge wichtiger. Gleich morgen früh werde ich ihm auf die Füße steigen. Na, der kann sich auf etwas gefasst machen.
2.
Der Beamte des Meldeamts in der Ettstraße sah von seinem Register auf. »Also jetzt bittschön noch einmal ganz von vorn, Herr …«
»Kajetan.
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