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Am Ende des Winters

Am Ende des Winters

Titel: Am Ende des Winters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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gewesen, die unendliche Zeiträume umfaßten und in langen, weit auseinander liegenden Intervallen Verderben brachten. Herabgesandt aus den fernen Himmeln, und alle Welt war davor auf die Knie gefallen. Nun würden Millionen Jahre verstreichen, ehe derlei sich erneut ereignete. Ganze Äonen des Lebens würden entstehen und wieder vergehen und keine Erinnerung haben an den letzten Langen Winter des Großzyklus und würden nichts wissen von der nächsten Katastrophe in einer fernen Zukunft.
    Aber der gewöhnliche Winter war weiter nichts als eine der Jahreszeiten des Kleinzyklus. Und er konnte sich von einem Ort auf der Erde zum anderen stark unterscheiden. Hresh hatte ihr erklärt, was die Jahreszeiten verursachte, allerdings hatte sie noch immer eine recht verschwommene Vorstellung von dem Ganzen. Es hing irgendwie mit dem Lauf der Sonne um die Erde zusammen – oder mit dem der Erde um die Sonne, sie war nicht sicher, was von beidem. Es kam eine Jahreszeit, in der die Sonne kaum über den Horizont emporstieg, und das war der Winter. Im allgemeinen war Winter kalt – und er war es gewißlich gewesen, als sie die weiten Ebenen durchquerten, damals im ersten Jahr –, doch an bestimmten vom Glück begünstigten Orten war der Winter sanft und mild. Und hier war ein solcher Ort. Und darum hatten die Saphiräugigen, die Kälte schlecht vertrugen, hier ihre Große Stadt zu errichten beschlossen, vor langer, langer Zeit, ehe die Todessterne kamen.
    Und so kreisten die Jahreszeiten. Wir haben wieder Winter, dachte Torlyri, unseren warmen feuchten vengiboneezischen Winter. Und die Zeit vergeht, und wir werden alle älter.
    Der Stamm wuchs sehr rasch an Zahl. Es lebten noch alle, die mit dem Großen Treck aus dem Kokon Vengiboneeza erreicht hatten, und die Siedlung wimmelte inzwischen von neugeborenen Kindern. Die vordem Kinder gewesen waren, wuchsen ihrer Reife entgegen. Taniane, Hresh, Orbin, Haniman – sie waren fast schon alt genug für die Einweihung in die Mysterien des Tvinnr. Und wenig später würden sie Kopulationspartner wählen. Und selbst Kinder haben.
    Torlyri dachte darüber nach, wie das sein mochte, selbst ein Kind zu haben. Zu fühlen, wie Tag um Tag das Leben in einem wächst. Wie es pulsiert. Nach außen drängt. Und wie es wäre, wenn sie dann, sobald ihre Zeit gekommen war, da zwischen den Weibern zu liegen und die Beine zu breiten, damit dieses neue Leben herauskönne.
    Als sie noch ein Mädchen war, hatte sie sich nie viele Gedanken über Kopulation oder Mutterschaft gemacht. Doch seit mindestens einem Jahr spielte sie nun mit der Vorstellung herum. Hier und jetzt in diesem Neuen Frühling war dies auch keineswegs ein absonderlicher Gedanke. Seit der Sittenreform hatte es im Volk eine Unzahl neuer Kopulationspartnerschaften gegeben, und nahezu alle, die sich bislang noch nicht kopulativ gebunden hatten, hatten doch immerhin mit der Vorstellung geliebäugelt. Sogar Koshmar hatte gewitzelt über Torlyris plötzliche neckische Verspieltheit gegenüber diesem oder jenem Mann. Aber Koshmar schien sich keine ernsthaften Sorgen zu machen. Es war nicht Brauch, daß die Opferfrau sich einen Kopulationspartner wählte; und was den Kopulationsakt selbst anging, so wußte Koshmar ja, daß Torlyri daran nie ein besonders großes Interesse gehabt hatte.
    Torlyris Erwählung zur nächsten Opferfrau war früh erfolgt, als sie kaum über die Mädchenjahre hinaus war. Das war unter der Häuptlingsschaft Themurs und der Zeit Gonnaris als Opferpriesterin gewesen. Diese beiden waren praktisch gleichaltrig gewesen, mußten also das Grenzalter gleichzeitig, mit nur einem Monat Abstand, erreichen und durch die Schleuse schreiten. Thekmur erwählte sich Koshmar als Nachfolgerin, und Gonnaris Wahl fiel auf Torlyri. Im Verlauf der folgenden fünf Jahre hatten sich Koshmar und Torlyri, die bereits Tvinnr-Partner waren, der Ausbildung für die großen Aufgaben unterzogen, die ihrer harrten; und dann waren für Thekmur und Gonnari deren Todestage gekommen, und für Koshmar und Torlyri war das Leben schlagartig und endgültig verändert.
    Das war nun zwölf Jahre her. Torlyri war zweiunddreißig Jahre alt, fast dreiunddreißig. Wenn man noch im Kokon lebte, würde ihr eigener Todestag nur wenige Jahre entfernt sein und sie würde bereits eifrig ihre Nachfolgerin heranbilden. Aber niemand sprach mehr von Grenzalter oder Todestagen. Torlyri würde die Opferpriesterin bleiben, bis ihr natürlicher Tod zu ihr kam und sie hinwegnahm.

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