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Am Ende des Winters

Am Ende des Winters

Titel: Am Ende des Winters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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ihr allein die entfernteren Bezirke der Stadt durchstreifte. Hresh hatte eigentlich nicht zur Zitadelle zurückkehren wollen. Er meinte jetzt zu wissen, worum es sich da handelte, und er fürchtete sich vor der Bestätigung, daß seine Vermutung richtig sei. Das seltsame Bauwerk jedoch faszinierte Taniane, und sie bettelte und bohrte immer wieder, bis er ihr endlich nachgab. Und nachdem er einmal dazu entschlossen war, entschied er sich dafür, dem Geheimnis der Zitadelle auf den Grund zu kommen, und sei es mit Gewalt, was immer auch die Folgen davon sein würden. Sag ihr nichts, sondern laß sie selbst sehen. Sie soll ihre eigenen Schlußfolgerungen ziehen. Vielleicht, dachte er, ist die Zeit gekommen, ein Stück der schrecklichen Wahrheit mit jemandem zu teilen, die ich in mir verschließe. Und vielleicht war Taniane genau die richtige Person dafür.
    Der Pfad zur Zitadelle war schwierig und bestand aus grauen Steinplatten, die von der Zeit und den Erdbeben in alle Richtungen verschoben waren und die während der Winterregen von einer dichten pelzigen Schicht glitschiger grüner Algen überwuchert waren. Zweimal rutschte Taniana aus und Hresh mußte sie abfangen, einmal am Oberarm, das andre Mal beim Schenkel und dem Kreuz; und jedesmal brannten ihm von der Berührung die Finger ganz seltsam. Und in den Lenden und in seinem Sensororgan rührte sich etwas. Er ertappte sich über dem Wunsch, sie möchte noch ein drittesmal ausrutschen, aber sie tat es leider nicht.
    Dann waren sie oben und traten auf die Felszunge, auf der die Zitadelle in einsamer Majestät über Vengiboneeza brütete. Hresh überquerte den Teppich des kurzen dichten breitblättrigen Grases, das um den Bau herum wuchs, und trat an die Kante und spähte hinaus. Unermeßlich weit breitete sich unter ihm die Stadt und leuchtete in dem fahlen milchigen Winterlicht. Er blickte auf die zerbrochenen weißen Gebäudestümpfe hinab, auf zierliche Schwebebrücken, die zu Trümmerhügeln zusammengesunken waren, auf Straßenläufe aus schimmerndem Stein, durchsetzt von lebhaften Grün- und Blautönen, die sich bis zum Horizont dehnten. Schwer atmend vom Anstieg, stand Taniane dicht bei ihm.
    »All dies habe ich gesehen, als es noch lebendig war«, sagte Hresh nach einer Weile.
     »Ja. Haniman hat mir davon erzählt.«
    »Es war absolut wunderbar. So viele Sachen, die sich gleichzeitig ereigneten, so viele verschiedene Leute, eine solche Energie. Erstaunlich. Und sehr niederschmetternd.«
    »Niederschmetternd?«
    »Ich hatte nie so recht begreifen können, was eine Hochzivilisation wirklich ist, bis ich die Große Welt erblickt hatte. Und mir war auch nie klar geworden, wie weit wir noch davon entfernt sind, zivilisiert zu sein. Ich hatte mir vorgestellt, das muß so ungefähr wie in einem Kokon sein, nur um vieles größer und mit mehr Leuten, die mehr Beschäftigungen nachgehen. Aber das ist es gar nicht, Taniane. Es besteht ein Unterschied in der Qualität, nicht bloß in der Quantität. Es gibt einen bestimmten Punkt, an dem eine Zivilisation sich erhebt, an dem sie beginnt, ihre Eigenkraft zu entfalten, und dann wächst sie aus sich selbst heraus immer weiter, nicht nur aus der Summe der Aktionen der Menschen, aus denen sie besteht. Kannst du mich überhaupt verstehen? Unser Stamm ist für so etwas viel zu klein. Wir haben unsere kleinen Aufgaben zu erledigen, und das tun wir, und am nächsten Tag machen wir es genauso, aber darin steckt nicht das gleiche Sinnpotential, nicht die gleichen Möglichkeiten der Umgestaltung, eines explodierenden Wachstums. Dazu braucht man eine größere Zahl von Leuten. Nicht bloß ein paar hundert. Man braucht Tausende – Millionen…«
    »Aber das werden wir eines Tages haben, Hresh.«
    Er zuckte die Achseln. »Bis dahin ist es noch sehr weit. Und zuerst gibt es ungewöhnlich viel Arbeit zu leisten.«
    »Auch die Große Welt hat klein angefangen.«
    »Ja«, sagte er, »das halte ich mir auch immer vor.«
    »Also das war es, was deine Seele dermaßen bekümmert hat, seit du damals heimkehrtest, nachdem du geschaut hast, was du da geschaut hast?«
    »Nein«, sagte Hresh. »Das war es nicht. Das war was anderes.«
    »Kannst du es mir sagen?«
    »Nein. Ich kann es keinem sagen.«
    Lange blickte sie ihn schweigend an. Dann lächelte sie und berührte ihn sacht an der Schulter. Er schauderte unter der Berührung und hoffte, sie möge es nicht bemerkt haben.
    Er drehte sich um und betrachtete eine Weile die Zitadelle. Diese

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