Am Ende des Winters
düstere Gedanken. Er kam sich wie in einer Art Traum gefangen vor, in dem alles zu starrer Unbewegtheit verdammt ist. Die Monde, sogar die Jahre verstrichen, und er saß hier in dieser uralten Ruinenstadt in der Falle – genauso wie er es einst im Kokon gewesen war. Aber irgendwie hatte es ihm im Kokon nichts ausgemacht, daß jeder neue Tag genauso verlief wie der vorherige. Hier aber, hier, wo die ganze Welt ganz knapp außerhalb seines Zugriffs lag wie eine schimmernde Perle, hier kochte und brodelte Ungeduld in Harruels Herzen. Er war zu der Überzeugung gelangt, daß er für Großes geboren war. Aber wann konnte er endlich damit beginnen, diese Größe zu erlangen? Wann? Wann?
Während der langen Regenperiode waren solcherlei Gefühle immer stärker in ihm angestiegen, bis sie nahezu unerträglich geworden waren. Er brachte ganze Tage in seinem Gabelbaum zu, naß bis auf die Haut, miefend, muffig und mürrisch zornig. Wütend schoß er düstere Blicke zur Stammessiedlung unter sich am Stadtrand und brüllte seine Verachtung für dieses armselige, teigig-träge Volk hinab. Er starrte erbittert den Berg über sich an und schrie höhnische Herausforderungen gegen den eindringenden Feind empor, der so hartnäckig sich weigerte zu erscheinen. Er wurde steif und wund. Der ganze Körper schmerzte ihn, und sein Hirn pochte. Hin und wieder stieg er von seinem Baum herab und pflückte sich Beeren von den Sträuchern in der Nähe. Und mehr als einmal fing er irgendein Niederwild mit bloßen Händen und tötete es und verspeiste es roh.
Einmal verbrachte er eine ganze Nacht zusammengekauert in seinem Baum, obschon der Regen ohne Unterlaß in schweren dicken Tropfen niederrauschte. Wozu sollte es schon gut sein, wenn er heimkehrte? Minbain war vollauf mit ihrem Baby beschäftigt; an Kopulation war sie derzeit ganz und gar nicht interessiert. Und der Regen kühlte immerhin seine Wut. Ein wenig.
Am Morgen traf ihn überraschend strahlender Sonnenschein wie ein Hieb auf den Mund. Harruel blinzelte benommen und glotzte und richtete sich auf, und hatte keine Ahnung, wo er sich befand. Dann fiel ihm wieder ein, daß er ja im Baum übernachtet hatte.
Bestürzt nahm er einen Augenblick lang an, was er sah, seien Goldstachelhelme auf der ganzen Breite des gezackten Felskamms zu seiner Linken. Die Invasion? Endich? Nein, nein. Es war nur das Morgenlicht, tief hinterm Horizont, das durch die Wassertröpfchen stach, die auf jedem Blatt blitzten.
Er schwang sich zur Erde hinab und humpelte steifgliedrig in die Stadt, um sich dort etwas zu essen zu beschaffen.
Auf halber Bergeshöhe kam ihm eine Gestalt ins Blickfeld. Zunächst glaubte er, es könnte Salaman sein oder Sachkor, die sich auf die Suche nach ihm begaben, nun da die Regen aufgehört hatten. Doch nein: das war ein Weib. Ein Mädchen. Groß und schlank, mit einem Fell von ungewöhnlich schwarzer Tönung. Harruel erkannte sie nach einiger Zeit als die junge Kreun, Sachkors Angebetete, die Tochter der alten Thalippa. Sie winkte ihm zu und rief: »Ich suche Sachkor! Ist er nicht bei dir?«
Harruel glotzte sie an, gab aber keine Antwort. Er hatte einst, vor vielen Jahren, mit Thalippa kopuliert. Das war eine Hitzige gewesen damals, diese Thalippa. Nach all den Jahren schlüpfte die Erinnerung aus den Tiefen seines Gedächtnisses wieder herauf. Sie hatte ihn mit ihren Krallen zerkratzt, diese Thalippa. Er erinnerte sich auf einmal wieder an den schweren süßen Moschusduft, den sie ausströmte. Erstaunlich, daß man sich nach fünfzehn Jahren noch an so was erinnert. Vor einem halben Leben war das gewesen.
»Niemand weiß, wo er ist«, sprach Kreun weiter. »Gestern früh war er noch da, und dann war er plötzlich verschwunden. Ich bin zu dem Ort gegangen, wo die Jungmänner sind, aber dort war er auch nicht. Salaman meinte, vielleicht ist er hier oben im Berg bei dir.«
Harruel zuckte die Achseln. Früher einmal hätte dies alles vielleicht eine Bedeutung gehabt. Jetzt aber hielt ein seltsamer Bann seinen Geist umklammert.
»Es ist so lange her, Thalippa.«
»Wie?«
»Komm zu mir! Komm näher, damit ich dich anschauen kann, Thalippa.«
»Ich bin Kreun. Thalippa ist meine Mutter.«
»Kreun?« sagte er fragend, als habe er den Namen nie zuvor gehört. »Ach, ja. Kreun.«
Zwischen seinen Schenkeln fühlte er glühende Hitze und einen scheußlichen bohrenden Schmerz. Viele Tage in diesem Baum, und nun noch eine ganze Nacht lang war er im Regen dort gehockt. Hatte Wache
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