Am Ende des Winters
zornig zu funkeln. »Hast du vor wegzulaufen? Zu Harruel, ja?«
»Aber nein, nicht zu Harruel. Nein. Und auch nicht bloß ich allein, Koshmar. Wir alle.«
»Alle?« Der heiße stechende Schmerz unter dem Brustbein kehrte zurück. Sie hätte gern mit der Hand dagegen gedrückt. Aber dies würde Hresh auf ihre Zwangslage aufmerksam gemacht haben. Also beherrschte sie sich sehr mühsam. »Was für Torheiten sind das jetzt schon wieder? Ich habe dich doch gewarnt, daß du mich mit verrückten neuen Plänen verschonen sollst…«
»Darf ich trotzdem sprechen, Koshmar?«
»Sprich!«
»Ich möchte dich an den Tag erinnern, als wir vor Jahren hier in Vengiboneeza eingezogen sind. Wie die Künstlichen der Saphiräugigen uns verspottet haben und mich einen ‚kleinen Affen’ nannten und uns erklärten, wir seien etwas anderes als richtige menschliche Wesen.«
»Wir gaben die angemessene Antwort, und die Torhüter haben uns als Menschliche akzeptiert und uns eingelassen.«
»Akzeptiert, ja. Aber sie haben niemals zugestanden, daß wir Menschliche von der Art der Großen Welt seien. ‚Ihr seid jetzt die Menschen’, das haben sie gesagt. Weißt du nicht mehr, Koshmar?«
»Das Ganze ist sehr lästig, Hresh.«
»Was würdest du sagen, wenn ich dir berichte, ich habe unumstößliche Beweise dafür gefunden, daß die Wächter die Wahrheit gesprochen haben? Daß die Träumeträumer die wirklichen Menschlichen der Großen Welt gewesen sind, daß unsere Art damals kaum mehr war als Tiere?«
»Absurder Unsinn, Junge!«
»Ich habe die Beweise.«
»Absurde Beweise. Ich sagte damals, daß es möglicherweise vielerlei Arten von Menschlichen gegeben haben könnte, daß aber wir die einzige Art sind, die noch existiert. Und deshalb gehört die Welt mit Recht uns. Es besteht keine Notwendigkeit, Hresh, das Ganze wieder durchzuhecheln. Überhaupt, was hat es damit zu tun, daß wir aus Vengiboneeza fortziehen sollen?«
»Weil«, dozierte Hresh, »wenn wir menschliche Wesen sind und wenn wir die einzigen sind, die es noch gibt, wir von diesem Ort hier weichen sollten, um uns eine eigene Stadt zu erbauen, wie Menschen dies tun, anstatt als Okkupanten in den Ruinen irgendeines anderen uralten Volkes zu hausen.«
»Das ist das gleiche Argument, das auch Harruel vorgebracht hat. Es war Hochverrat, und es hat den Stamm gespalten. Wenn du glaubst, was er glaubt, dann solltest du fortgehen und bei ihm leben, wo immer er und seine Gefolgschaft sich aufhalten mögen. Willst du dies? Dann geh! Geh, Hresh!«
»Ich will, daß wir allesamt weggehen. Damit wir menschlich werden können.«
»Wir sind menschlich!«
»Dann sollten wir fortziehen, damit wir unserem Schicksal gemäß als Menschen leben können. Verstehst du denn nicht, Koshmar, der Unterschied zwischen Menschen und Tieren ist doch der, daß die Tiere einfach nur von einem Tag zum anderen leben, wohingegen die Menschen…«
»Genug!« sagte Koshmar sehr ruhig. »Die Diskussion ist beendet.«
»Koshmar, ich…«
»Schluß!« Sie legte die Hand auf die Brust und preßte sie fest dagegen und begann zu reiben. Der Schmerz war so heftig, daß sie sich am liebsten zusammengekrümmt und ihre Knie umklammert hätte, doch sie zwang sich, aufrecht sitzen zu bleiben. »Ich bin hier herausgegangen, um allein zu sein und über Dinge nachzudenken, die mich betreffen«, sagte sie. »Du hast dich mir trotzdem aufgedrängt, mich in meiner Privatsphäre gestört, obwohl ich dich bat, es nicht zu tun, und hast allen möglichen alten Unsinn hervorgezerrt, der für unsere jetzigen Lage von keinerlei Bedeutung ist. Wir sind keine Affen. Dieses schnatternde Gezücht auf den Dächern, das sind Affen, und sie sind keine Verwandten von uns. Und wir werden aus Vengiboneeza fortziehen, ja, wenn die Götter mir verkünden, daß unsere Zeit dafür gekommen ist. Es mir verkünden, Hresh, nicht dir! Ist dies klar? Gut. Gut. Und jetzt laß mich in Ruhe!«
»Aber…«
»Laß mich in Ruhe, Hresh!«
»Wie du wünschst«, sagte er und wandte sich um und ging langsam zur Siedlung zurück.
Als er außer Sichtweite war, krümmte Koshmar sich zusammen. Sie fröstelte, und Welle um Welle wallte der Schmerz durch ihren Leib. Nach einer kleinen Weile vergingen die Krämpfe, und sie richtete sich schweißgebadet auf, und das Hämmern in ihrem Herzen wurde allmählich schwächer.
Der Junge meint es gut, dachte sie. Er ist so ernsthaft, so eindringlich mit erhabenen Dingen wie Schicksal und Ziel beschäftigt. Und
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