Am Ende des Winters
bestimmt und uns dies kundgetan. Dies ist dein Krönungstag. Hier, nimm Koshmars Maske und setz sie auf! Da, nimm sie! Und den Stab. Und nun müssen wir alle drei hinaustreten, damit alle wissen, was geschah und was als nächstes geschehen wird. Kommt! Jetzt gleich!«
Torlyri warf einen raschen Blick auf Koshmar. Dann schob sie die eine Hand in Tanianes, die andere in Hreshs Armbeuge und zog die beiden aus dem Sterbezimmer. Sie bewegte sich rasch und mit einer festen Sicherheit, wie sie Hresh lange nicht mehr an ihr erlebt hatte. Sie traten in die helle Mittagssonne hinaus, und sogleich hörte jegliche Arbeit auf und aller Augen richteten sich auf sie. Es herrschte eine gespenstische Stille auf dem Platz.
Und dann kamen die Leute vom Stamm angelaufen. Threyne und Shatalgit und Orbin, Haniman und Staip, Kreun und Bonlai, Tramassilu, Praheurt, Thhrouk, Threyne und Thaggoran, Delim, Kalide, Cheysz, Hignord, Moarn, Jalmud, Sinsitine, Boldirinthe – alle, alle, die ältesten und die jüngsten, manche hielten Werkzeuge in Händen, andere trugen Kleinkinder, andere hielten ihr Mittagsbrot umklammert, und allesamt warfen sie sich nieder vor Taniane und riefen ihren Namen, als sie ihren Amtsstab in die Höhe reckte. Torlyri aber lockerte den Griff um Taniane und Hresh nicht. Sie klammerte sich vielmehr mit ganzer Kraft an sie, und ihr Griff war schmerzhaft. Hresh fragte sich, ob sie sich deshalb so fest an ihn klammere, weil sie sonst zu Boden stürzen würde.
Doch nach einiger Zeit ließ Torlyri sie los und schob Taniane nach vorn, damit sie sich unter das Stammesvolk begebe.
Taniane glühte.
»Heute abend wird eine feierliche Zeremonie abgehalten werden«, sprach Torlyri mit fester klarer Stimme. »Inzwischen aber nimmt euer neuer Häuptling eure Ergebenheit und Treuegelöbnis entgegen und dankt euch für eure Liebe. Sie wird noch mit jedem einzelnen unter euch sprechen, einem nach dem anderen.« Zu Hresh sprach sie ein wenig leiser: »Laß uns jetzt wieder hineingehen«, und zog ihn an sich. Sie traten in das Häuschen zurück. Koshmar schien zu schlafen. Torlyri bückte sich und hob das herabgefallene Amulett Thaggorans auf und legte es in Hreshs Hände. Es war kaum ein paar Stunden lang nicht in seinem Besitz gewesen.
»Hier«, sagte sie. »Du wirst dies auf der Reise brauchen.«
»Wir sollten den Auszug verschieben«, sagte Hresh. »Bis das Ritual erfüllt und Koshmar gebührlich zur Ruhe gebettet ist.«
»Dies alles wird heute abend erledigt werden. Es darf keinen Aufschub geben.« Torlyri brach ab. »Ich habe Boldirinthe soviel wie möglich in die Aufgaben und Pflichten der Opferfrau eingeführt. Morgen werde ich sie die höheren Mysterien, die Geheimnisse, lehren. Und dann müßt ihr fortziehen.«
»Was sagst du mir da, Torlyri?«
»Daß ich hierzubleiben beabsichtige und meine künftigen Geschicke mit denen der Beng verbinde. Mit Trei Husathirn.«
Hresh Mund ging auf, aber da gab es nichts, was er hätte sagen können.
»Wäre Koshmar am Leben geblieben, vielleicht wäre ich mit euch gezogen. Aber sie ist dahin, und so bin ich frei, verstehst du? Und darum will ich hier bleiben. Der Behelmte kann sein Volk nicht verlassen, darum werde ich eine von ihnen werden. Aber ich werde auch weiterhin die Morgengebete für euch sprechen, ganz so, als machte ich die Fahrt mit euch. Wo immer ihr hingelangt, ihr werdet wissen, daß ich euch behüte, dich, Hresh, dich und den ganzen Stamm.«
»Torlyri…«
»Nicht. Alles ist sehr klar und einfach – für mich.«
»Ja. Ja, ich verstehe schon. Aber es wird schwer werden, ohne dich.«
»Glaubst du, es wird für mich leicht sein, ohne euch alle?« Sie lächelte und winkte ihn zu sich, und er kam in ihre Arme. Sie umarmten einander wie Mutter und Sohn – oder vielleicht gar wie Liebende – und hielten sich lange eng umschlungen. Sie begann wieder zu schluchzen, brach aber wieder ab, gerade rechtzeitig, denn im nächsten Augenblick hätte auch Hresh zu weinen begonnen.
Sie ließ ihn los und bat: »Laß mich jetzt eine Weile mit Koshmar allein. Dann müssen wir uns zusammensetzen und das nötige Ritual ausarbeiten. Im Tempel, in zwei Stunden. Du wirst dort sein?«
»Im Tempel, ja. In zwei Stunden.«
Wieder verließ er das Häuschen. Weit drüben am anderen Ende des Platzes stand Taniane inmitten einer Gruppe von fünfzehn, zwanzig Stammesangehörigen. Sie standen dicht um sie geschart und dennoch gleichzeitig in achtungsvoller Distanz, als scheuten sie vor der Glut
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