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Am Ende des Winters

Am Ende des Winters

Titel: Am Ende des Winters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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hatte sich noch bedeutend verstärkt, so daß er nun nicht mehr bloß verschlossen und abweisend wirkte, sondern frostig und wie in irgendeinem schrecklichen Bezirk seiner Seele verirrt. »Nichts kann an einem solchen Ort überleben«, sagte er. »Wir sollten besser umkehren.«
    »Wir müssen weiterziehen«, beharrte Koshmar. »Das, was jetzt geschieht, ist normal und naturgemäß. Wir sind an einen Ort gelangt, an dem die Dunkelheit stärker ist als das Licht. Wenn wir darüber hinaus sind, wird alles sich zum Besseren wenden.«
    »Wirklich?« fragte Staip.
    »Habt Vertrauen«, sagte Koshmar. »Yissou wird uns beschützen. Emakkis wird uns ernähren. Dawinno wird uns leiten.«
    Und so zogen sie weiter.
    Doch in ihrem Innersten war die Anführerin gar nicht so gewiß, daß ihre Zuversicht berechtigt sei. Im Kokon waren Tage und Nächte stets gleich lang gewesen. Offenkundig war das hier draußen anders. Doch was bedeutete es tatsächlich, dieses Schwinden der hellen Tagesstunden? Vielleicht hatte Staip doch recht, und sie zogen in ein Reich, in dem die Sonne niemals aufging, und sie würden alle den Tod durch Erfrieren finden.
    Sie wünschte sich sehr, Thaggoran wäre noch da, damit sie ihn um Rat fragen könne, denn er würde eine Erklärung gewußt haben – oder doch wenigstens irgend etwas Vertraueneinflößendes erfunden haben. Doch sie hatte jetzt keinen Thaggoran mehr, und der Alte Mann ihres Stammes war – ein Kind! Aber Koshmar ließ den Jungen trotzdem zu sich rufen und, achtsam bemüht, ihn nicht merken zu lassen, wie verwirrt sie sei, sprach sie zu ihm: »Ich muß einen sehr alten Namen finden, Chronist.«
    »Und welcher Name wäre das?«
    »Der Name, den die Uralten fanden für den Wechsel der Zeiten des Lichts und der Dunkelheit. Es muß da doch etwas in den Chroniken vermerkt sein. Und der Name ist der Gott; wir müssen diesen Gott bei seinem richtigen Namen anrufen, wenn wir beten, sonst wird das Licht der Sonne niemals wiederkehren.«
    Hresh machte sich daran, die Archive zu durchstöbern. Er arbeitete das ganze Buch des Weges durch, das Buch der Stunden und der Tage, das Buch des Goldenen Erwachens, das Buch des Trügerischen Scheins, und manch anderen Band, darunter auch solche, die nicht einmal einen Titel hatten. Teilantworten fand er hier in dem oder jenem Buch und Bruchstücke in wieder einem anderen, und nach dreitägigem Forschen trat er wieder vor Koshmar hin und sprach: »Der Name lautet ‚Jahreszeiten’. Es gibt die Jahreszeit des vollen lichten Tags, auf welche folgt die Zeit der Dunkelheit, und nach dieser kommt die lichte Zeit wieder herauf.«
    »Das ist ja einleuchtend«, sagte Koshrnar. »Die Jahreszeiten. Wie konnte ich nur dieses Wort vergessen?« Und sie ließ Torlyri holen und trug ihr auf, zu dem Gott der Jahreszeiten zu beten.
    »Und was für ein Gott ist das?« fragte die sanftmütige Opferpriesterin.
    »Ja, eben der Gott, der die Zeit des Lichtes und die Zeit der Dunkelheit schenkt«, sagte Koshmar.
    Torlyri war unsicher. »Meinst du Friit? Aber Friit ist der Heiler. Also, der würde wohl Licht nach der Dunkelheit bringen.«
    »Aber Friit würde nicht die Dunkelheit bringen«, sagte Koshmar. »Nein, es ist ein ganz anderer Gott.«
    »Also, dann sage es mir, denn ich weiß wahrhaftig nicht, wem ich opfern soll.«
    Koshmar hatte zwar gehofft, daß Torlyri da Bescheid wissen würde, aber nun erkannte sie, daß ihre Geliebte die Entscheidung von ihr erwartete. »Es ist Dawinno«, sagte sie ohne weiteres.
    »Ja. Der Zerstörer«, sagte Torlyri und lächelte. »Die Finsternis und dann das Licht, ja, das wäre genau die Art von Dawinno. Er hält alles in Ausgewogenheit, damit es richtig werde – am Ende.«
    Also ging von da an jeden Tag zur Mittagszeit, wenn die Sonne am höchsten am Firmament stand, Torlyri ans Werk und opferte Dawinno-dem-Vernichter in seiner Gestalt als Gott der Zeit des Jahres. Dabei verbrannte sie ein paar alte Fellflausen und ein Stück trockenes Moderholz in einer kostbaren alten Opferschale aus geschliffenem grünen Stein, der von Goldadern durchzogen war. Der zur Sonne aufsteigende Rauch enthielt ihre Botschaft an den Gott, dessen schwer begreifliche Feinheiten menschliches Begriffsvermögen überstiegen.
    Obgleich die Tage immer kürzer wurden, ließ Koshmar keine weiteren Diskussionen über diese Erscheinung zu. »Das ist der Lauf der Jahreszeiten«, sagte sie und wedelte Einwände gebieterisch mit der Hand weg. »Das weiß doch ein jeder! Also, was

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