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Am Ende des Winters

Am Ende des Winters

Titel: Am Ende des Winters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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Großen Fünf die erheischten Opfer dar. Einige Jahre später kam der zweite Ritualschritt, der Tvinnr-Tag, der die formelle Anerkenntnis der seelischen Reife darstellte. Und die nächste Gelegenheit, bei der die meisten Stammesangehörigen ins Freie gelangten, war am Tag ihres Todes, wo sie – sofern sie noch kräftig genug waren zu gehen – von der Opferpriesterin, dem Stammeshäuptling oder manchmal auch von dem ältesten Krieger zur Tür geleitet wurden oder – wenn sie zu gebrechlich waren – einfach von der Opferfrau hinausgeschleift und dort abgesetzt wurden, damit Wind und Regen sich ihrer bemächtigten.
    Aber wie hätte Hresh für das Ritual seines Namenstages aus dem Kokon treten sollen, wo er doch längst schon draußen war?
    Der alte Ritus war sinnlos geworden. Der Tag der Namensgebung allerdings war wichtig. Und wieder einmal begriff Torlyri, daß es an ihr lag, ein neues Ritual zu erfinden. Es war irgendwie seltsam und auch ein wenig beunruhigend, diese Aufgabe: einfach ein neues Ritual zu erfinden. Waren denn auch alle die alten Riten auf diese Weise entstanden? fragte sie sich. Von Priesterinnen jeweils für den Notfall erfunden? Oder vom Alten Mann? Um einem plötzlich auftretenden Bedürfnis zu genügen? Und waren sie überhaupt in keiner Weise göttliche Fügung?
    Aber der Gott – so beruhigte sie sich – spricht durch den Geist der Opferfrau.
    Nun, so sei es denn. Sie erbat Urlaub von Koshmar und ging für sich allein zurück zu dem See des Wasserschreiters und kniete dort nieder vor Dawinno und erflehte von ihm Weisung. Und Dawinno schenkte ihr ein neues Ritual. Und es sprang hell und quellenklar in ihrer Seele auf.
    Während sie da so kniete, erschien der Wasserschreiter wieder. Sie blickte furchtlos zu ihm hin, während er sein gewaltiges spilleriges Selbst entfaltete. Sie lächelte. Du könntest mir nichts antun, auch wenn du es wolltest, dachte sie. Aber auch wenn du es wirklich vermöchtest, so würde ich dich einfach anlächeln, und du würdest mir nicht ein Haar krümmen wollen. Der Wasserschreiter betrachtete sie düster und leicht schwankend aus seiner großen Höhe. Und dann hatte sie den Eindruck, als lächle er ihr zu, als sei ihm ihre Anwesenheit hier durchaus angenehm.
    Sie nickte ihm grüßend zu.
    »Mögen die Fünf dir nahe und hold sein, Freund«, sagte sie. Und der Schreiter lachte; aber sein Gelächter wirkte irgendwie freundlicher als beim erstenmal.
    Als Torlyri ins Lager zurückkehrte, sah sie droben einen Schwarm jener Geschöpfe kreisen, die Thaggoran ‚Blutvögel’ genannt hatte und die den Stamm weit drüben in den Flachländern mehr als einmal belästigt hatten, wo sie das wandernde Volk mit ihren Schnäbeln aufzuspießen versucht hatten. Sie erinnerte sich an das schreckliche Herabstoßen, an das schrille Kreischen, an die Wunden, die sie geschlagen hatten. Aber diesmal fühlte sie, daß kein Anlaß zu Panik bestehe. Sie blickte den Blutvögeln ebenso furchtlos entgegen, wie sie es bei dem Wasserschreiter getan hatte, und sie hielten sich weit entfernt und hoch droben und kreisten, ohne herabzustoßen.
    Ja, das ist der rechte Weg, so müssen wir an diesem Ort hier leben, dachte sie. Tritt den Geschöpfen ohne Furcht entgegen… begegne ihnen – wenn du kannst – mit Liebe… dann werden sie dir nichts Böses antun.
    »Also«, erklärte sie Koshmar, »das neue Ritual ist folgendermaßen: Ich werde mit ihm fortgehen ins Gehölz, weit fort vom Stammeslager, an einen Ort, wo wir ganz allein sind und wo uns nur die Geschöpfe des Waldes umgeben. Das wird dann so sein wie in den alten Tagen das Heraustreten aus dem Kokon. Und dort wird er die Opfer vornehmen für die Fünf Erhabenen, und dann muß er hintreten vor irgendein Geschöpf der Wildnis, es ist nicht weiter wichtig, was für eins es ist, eine Schlange, ein Vogel, ein Wasserschreiter, irgendein Wesen, solang es nur uns Menschen unähnlich ist… und er wird hin treten vor dieses Geschöpf in friedlicher Weise und wird ihm seinen neuen Namen sagen.«
    Koshmar blickte verwirrt drein. »Und wozu soll das gut sein?«
    »Es bedeutet, daß wir ein Volk sind in der Welt und zu der Welt gehören und daß wir uns wieder in das Leben der Geschöpfe der Welt eingliedern. Daß wir in Liebe und ohne Furcht auf sie zutreten und nun, da der Winter vergangen ist, gern ihre Welt mit ihnen teilen möchten.«
    »Aha!« sagte Koshmar. »Ich verstehe.« Aber Torlyri erriet aus der Art, wie sie es sagte, daß Koshmar nicht

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