Am Ende eines Sommers - Roman
Zunge rausstrecken und Pupsgeräusche machen und einen Ringkampf mit Andy anfangen, aber das alles tue ich nicht, ich sitze bloß da und grinse wie ein Vollidiot.
»War er auch so klein wie ich?«, frage ich Gran.
Sie sieht aus, als müsste sie überlegen, ob sie mir antworten will. »Als Kind, ja, das hat seine Mum gesagt. Aber als ich ihn kennenlernte, war er sechzehn und groß wie eine Bohnenstange. Seine Mum sagte immer, er hat auf dem Misthaufen geschlafen, um schnell zu wachsen.«
Dad lächelt mich an, und Andy glotzt doof und mit offenem Mund auf das Foto.
»Das ist irre, Jake«, sagt er dauernd. »Das ist irre.«
Als wir gehen, erlaubt Gran mir, das Foto zu borgen; sie schiebt es in einen gebrauchten Umschlag und schärft mir ein, darauf achtzugeben. »Sorg dafür, dass ich es nicht bereue«, sagt sie.
»Darf ich das von Dad ausleihen?«, fragt Andy.
»Nein, das darfst du nicht!«, faucht Gran. »Seid ihr nur deshalb hier? Um meine Fotos abzustauben und meinen Kuchen zu essen?«
Andy sieht gekränkt aus. Dad wirft Gran einen finsteren Blick zu und legt Andy die Hand auf die Schulter.
»Keine Sorge, Andy«, sagt er. »Ich frage einen von deinen Onkeln, ob wir eins borgen können. Wir wollen ja die Bilder nicht versauen, die Gran dauernd anschaut.« Er klappt den Lederkoffer zu und streicht mit dem Finger durch den Staub auf dem Deckel.
Andys Gesichtsausdruck verändert sich. »Danke, Dad«, sagt er, und dann lächelt er Gran an und verschränkt die Arme über der Brust. »Können wir jetzt gehen, Dad? Es ist bloß, weil Ronnys Gran gesagt hat, ich darf zum Tee vorbeikommen. Nanny nennt Ronny sie. Sie backt den besten Kuchen der Welt. Ihre Enkel kommen dauernd zu Besuch, und sie hat gesagt, ich kann ihr Extra-Enkel werden, wenn ich will. Sie strickt mir eine Mütze für den Winter, weißt du.« Er lächelt mich und Dad an, aber nicht Gran.
»Okay, Jungs, Zeit zum Gehen.« Dad schiebt Andy zur Tür.
»Sie hat das ganze Wohnzimmer voller Fotos, von allen ihren Enkeln.« Andys Blick wandert über die kahlen Tapeten in Grans Wohnzimmer.
Gran sagt nichts. Sie räuspert sich nur und zieht ihre Strickjacke fester um sich.
»Bis bald, Mum.« Dad gibt Gran einen Abschiedskuss, und ich und Andy klettern ins Auto, bevor Dad uns zwingen kann, sie noch mal zu küssen. Gran sieht uns nicht an.
»Miststück«, flüstert Andy, bevor Dad einsteigt.
»Klappe, du Idiot«, zische ich. Als Dad die Wagentür zuschlägt, richtet Gran den Blick wieder auf uns. In ihren Augen sehe ich Tränen und Reue.
»Wieso kann sie nicht nett zu uns sein, Dad?«, frage ich, als wir ein paar Minuten gefahren sind.
»Sie weiß einfach nicht, wie das geht, Sohnemann«, sagt er und runzelt die Stirn, bis wir zu Hause sind.
Mary,
Oktober 1984
Ich sitze in Billys Sessel in der dunklen Nacht. Die Jungs schlafen. Die Sandwichteller vom Abendbrot stehen immer noch auf dem Couchtisch, umgeben von Krümeln und Teetassenkringeln. Ich halte Rachels Brief in der Hand. Die Falten haben sich tief ins Papier gekerbt, ich trage ihn schon die ganze Woche mit mir herum. Ich gieße mir noch einen Gin ein und schließe die Augen. Ich denke an das Bett, in dem ich als Kind gelegen habe, keinen halben Meter von Rachel entfernt. Ihr leises Atmen, die Luft, die wir uns teilen. Die Geheimnisse, die wir zu bewahren geschworen haben. Das Lachen unserer Freundschaft, tief im Bauch. Dann weine ich um die vierzehn Jahre, die wir getrennt waren, und um die Erinnerungen, die wir niemals haben können.
Die Flasche ist leer. Der Schrank über dem Herd ist leer. Da ist nichts. Ich schließe ihn und öffne ihn noch einmal, um sicherzugehen. Klick-klack. Das schmutzige Geschirr stapelt sich in der Spüle und fängt an zu riechen. Morgen werde ich das erledigen. Morgen früh werde ich aufstehen, duschen und hier Ordnung machen. Ich will nicht, dass Billy vorbeikommt und auf mich herabschaut, als hätte ich hier nichts mehr im Griff. Er wird uns vermissen, wenn er sieht, wie gut wir ohne ihn zurechtkommen.
Im Wohnzimmer schüttle ich die Kissen auf und arrangiere sie hübsch auf dem Sofa. Der Brief wird feucht in meiner Hand, aber ich kann ihn nicht weglegen. Ich ziehe einen Stuhl an den Telefontisch und lese den Brief noch einmal in dem Licht, das durch die Küchentür fällt. »Robert ist im Juli gestorben, und das hat mich nachdenklich gemacht, Mary. Das Leben ist zu kurz. Du fehlst mir.«
Ich wähle Rachels neue Nummer. Es klingelt fünf Mal, dann meldet
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