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Am Ende eines Sommers - Roman

Am Ende eines Sommers - Roman

Titel: Am Ende eines Sommers - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabel Ashdown
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das Meer, bis ihre Segel in Fetzen hingen.«
    Die Illustration im Buch zeigt ein Schiff, das von einer ungeheuren Welle in die Höhe geschleudert wird. Die Männer darauf klammern sich angstvoll fest.
    »Nach vielen Tagen landeten die Schiffe an einer fremden Insel, weit, weit entfernt von ihrem Ziel. Odysseus begriff jetzt, dass er den stets wachsamen Augen des mächtigen Zeus nicht entkommen konnte. Er entschied, das Beste daraus zu machen, und schickte drei seiner Leute aus, damit sie die Insel erkundeten und etwas zu essen suchten. Die Übrigen blieben bei den Schiffen und versuchten, die Schäden zu reparieren, die durch die wütenden Stürme entstanden waren.
    Nach ein paar Stunden sah Odysseus, dass seine Männer nicht zurückgekommen waren, und es wurde dunkel. ›Das passt nicht zu meinen Leuten‹, dachte er. ›Ich muss sie suchen, sicher sein, dass ihnen nichts passiert ist.‹ Die ganze Nacht lang durchsuchte er den Wald, und als die Sonne aufging, fand er seine Leute. Sie schliefen fest, und jeder drückte einen goldenen Becher an die Brust.« Miss Terry hebt den Kopf und schaut lächelnd hoch.
    Die Klasse ist mäuschenstill. Bin ich der Einzige, der sie ansieht? Vielleicht sind alle andern eingeschlafen, wie die Lotos-Esser.
    »Klingt idyllisch, nicht wahr? Von Weitem hörte Odysseus ein leises Lachen, als ob sich in den Bäumen über ihm Leute versteckten. Odysseus wusste nicht, dass auf dieser Insel die Lotos-Esser lebten, ein Volk von wunderschönen Menschen, das nur den Saft der Lotosblüte zu sich nahm, der bewirkte, dass man einschlief und vergaß. Als er seine Männer schließlich geweckt hatte und sagte, sie müssten zu ihren Familien nach Ithaka heimkehren, konnten diese sich an nichts erinnern. Sie wehrten ihn ab und wollten auf der Insel bleiben und für den Rest ihres Lebens den Zaubersaft trinken.«
    »War der wie Wodka, Miss?«, ruft jemand quer durch den Raum.
    »Ja, Wodka und Coke«, schreit ein anderer, »davon vergisst man auch alles!«
    »Davon kotzt du eher«, sagt Debbie Sutcliffe, die neben mir sitzt.
    Miss Terry verdreht die Augen und sagt, sie sollen halblang machen. »Ja, tatsächlich könnte man ihn mit Alkohol vergleichen, was die einschläfernde Wirkung angeht. Der Lotosblütensaft konnte die Menschen dazu bringen, sich auf eine Weise zu benehmen, die sie nie für möglich gehalten hätten, und ihnen ihre Urteilskraft rauben. Stellt euch vor – sie konnten sich nicht mal daran erinnern, dass sie Frauen und Kinder hatten, die zu Hause in Ithaka auf sie warteten! Odysseus brauchte all seine Kraft, um die strampelnden und schreienden Männer zu den Schiffen zurückzuschleifen, damit sie die Segel setzten. Und selbst da waren die Männer so süchtig nach dem magischen Saft, dass sie versuchten, sich in die tückischen Gewässer zu stürzen und zum Ufer zurückzuschwimmen. Für sie gab es nichts Wichtigeres mehr als diesen Lotos-Saft.« Bei diesen Worten sieht sie mich mit weit aufgerissenen Augen an, und mich packt plötzlich die Angst, sie könnte es wissen: Sie könnte wissen, dass ich sie wegen Mums Grippe angelogen habe. Meine Brust krampft sich zusammen, und meine Ohren fühlen sich an, als wären sie prall von Blut.
    »Jake, ist alles in Ordnung?« Sie beugt sich zu mir herunter. »Du bist schrecklich blass geworden.« Sie legt mir die Hand an die Stirn, ihre Finger sind kühl und trocken.
    Ich kann sie nicht ansehen, und ich spüre die brennenden Blicke der andern in meinem Rücken. Überall wird getuschelt und gekichert. Irgendwie bin ich sicher, sie wissen es alle. Ich nicke, aber gleichzeitig schiebe ich meinen Stuhl zurück.
    »Okay.« Sie legt mir den Arm um die Schultern und führt mich zur Tür. »Ab mit dir zur Krankenschwester, Jake. Ich glaube, da solltest du bleiben, bis es dir besser geht. Debbie, sieh zu, dass er heil dort ankommt.«
    »Na brrrravo«, schnaubt Debbie, als wir draußen sind, und sie mustert mich von oben bis unten wie einen streunenden Kater. Sie geht mit verschränkten Armen neben mir her und hält einen Abstand, so breit wie der Flur. Auf dem ganzen Weg bis zum Krankenzimmer sprechen wir kein einziges Wort. Ich weiß nicht, was ich sagen werde, wenn wir ankommen. Ich könnte sagen, mir ist übel. Das stimmt ja auch. Mein Blick verlässt den blanken Boden im Korridor nicht und bleibt ab und zu an angetrockneten Kaugummifladen oder schwarzen Schrammspuren vom Ansturm des Morgens hängen. Debbie ist offenbar nicht erfreut darüber, dass sie

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