Am Ende eines Sommers - Roman
Nacht wegläufst und ich nicht mal weiß, ob du lebst oder tot bist! Ich hatte keine Ahnung, wo du bist, du selbstsüchtige Kuh! Nicht die leiseste Ahnung, verdammt noch mal!« Billy ist rasend vor Wut. Seine Augen sind dunkel verschleiert, und sein Gesicht ist rot.
Rachel stellt ihm den Tee auf den Tisch und hebt den Stuhl auf. Er setzt sich, und sie bleibt hinter ihm stehen und legt die Hände auf die Stuhllehne.
»Er hat recht, Mary. So was geht nicht.«
Ich starre sie an und muss an ein Bild von Vermeer denken. Es hat etwas mit der Komposition zu tun. Das Zimmer kippt ein wenig zur Seite, als ich sie anschaue, und ein Schauer geht durch mein Herz. Ich bin müde. Ich weiß, dass sie sich gegen mich verbündet haben, die Schweine. Aber darauf falle ich nicht rein.
»Okay, okay. Ich habe Mist gebaut. Tut mir leid. Okay? Soll ich nicht uns allen ein Glas eingießen? Ja?«
Billy schüttelt den Kopf wie ein Besiegter. Rachel starrt mich an wie eine Fremde.
Ich lache wieder und nehme beide Hände hoch. »O mein Gott, ihr beiden. Seid ein bisschen locker, ja? Hey, ich war zwei Nächte weg, weiter nichts. Niemand ist gestorben, oder? Gott, das ist ja, als hätte ich meine Eltern im Haus! Also, Rach, was trinkst du?«
Rachel gibt nach und setzt sich Billy gegenüber. Beide sehen immer noch aus wie gelähmt.
»Du kapierst es einfach nicht, was?« Billy sieht jetzt eher erschöpft als wütend aus.
Ich hole Gläser und eine Flasche Scotch aus dem Schrank über dem Herd. »Nicht so richtig«, sage ich und gieße die drei Gläser halb voll. Dabei kleckere ich ein bisschen Scotch auf die Tischplatte. Eis, fällt mir dann ein. Ich gehe noch mal in die Küche und öffne das Gefrierfach. »Oh, Billy, hier ist kein Eis! Wieso muss immer ich die Eisschale nachfüllen?«
Ich ziehe mir einen Stuhl heran und setze mich zu ihnen, zwischen sie. Billy kippt seinen Scotch herunter, und Rachel beobachtet ihn sorgenvoll. Als sie mich anschaut, sehe ich, dass auch sie müde ist. Das Abendlicht ist jetzt vollends verschwunden, und Dunkelheit fällt durch die offenen Vorhänge ins Zimmer. Das einzige Licht kommt von der Lampe in der Küche; es flutet über den Tisch und erfasst auf seinem Weg die bernsteinfarbene Flüssigkeit in den Gläsern.
»Wie ging’s Matthew?«, frage ich und schenke nach, als die Gläser leer sind.
»Gut«, sagt Rachel, weil Billy nicht antwortet. »Er ist gewachsen, seit ich ihn zuletzt gesehen hab.«
Ich lächle sie an und bin froh über ein freundliches Wort. Billy hebt den Kopf und sieht mich an, halb vernichtet.
»Hört zu.« Ich greife nach den Händen der beiden. »Können wir nicht einfach vergessen, dass es jemals passiert ist?«
Sie wechseln einen fragenden Blick und nicken dann beide. Ich gieße die Gläser wieder voll, und wir trinken bis in die Nacht hinein. Billy gibt sein frostiges Schweigen auf und erzählt mir, wie Matthew damit zu kämpfen hat, Rachels Namen richtig auszusprechen. Tante Bagel nennt er sie. Nach zwei Gläsern kichert Rachel, und ich glaube, sie haben mir verziehen. Es ist schön, zu Hause zu sein.
Am nächsten Morgen packt Rachel ihre Tasche, und Billy fährt sie zum Bahnhof. Einfach so. Als ich aufwache, ist sie schon weg.
Teil ZWEI
Jake,
März 1985
Als wir heute mit dem klassischen Altertum anfangen, schreibt Miss Terry an die Tafel: »Die Lotos-Esser«.
Hinten fängt jemand an zu singen: » The first picture of you, the first picture of summer …«, und gleich singen andere mit, sie trommeln mit den Bleistiften auf die Tische und lassen ihre langen Ponyfransen im Takt hin und her schwingen.
Miss Terry klatscht scherzhaft Beifall, bis die Singerei aufhört. »Im Gegensatz zu dem, was manche von euch vielleicht denken, sind die Lotos-Esser keine New-Romantic-Popband«, ruft sie in den hinteren Teil der Klasse und setzt sich an ihr Pult. »Okay, Seite neunundvierzig im Buch. Mal sehen, woher eure Popgruppe ihre Inspiration hat, ja?« Sie sieht mich auf meinem Platz in der ersten Reihe an und zieht lächelnd die Brauen hoch.
Ich zucke zusammen, blättere hastig nach der richtigen Seite und senke den Kopf, um mein glühendes Gesicht zu verbergen.
»So. Ihr erinnert euch noch, dass Odysseus beschloss, Troja zu verlassen und seine Heimat Ithaka zu suchen. Er füllte zwölf Schiffe mit seinen Männern und setzte die Segel. Aber Zeus hatte andere Pläne mit ihm und wollte noch nicht, dass er Ithaka erreicht. Ein starker Sturm kam auf und trieb die Schiffe über
Weitere Kostenlose Bücher