Am Ende ist da nur Freude
bestätigt zu finden, dass es solche Phänomene zu allen Zeiten gegeben hat. Denn die Wahrheit ist, dass unsere Romane und Filme voller Geschichten über Visionen stecken oder darauf Bezug nehmen.
Man könnte nun einwenden, dass Künstler Visionen auf dem Sterbebett lediglich als Stilmittel in ihre Werke einbauen, also um der Geschichte eine bestimmte Wendung zu geben oder einen besonderen Effekt zu erzielen. Doch sie tauchen über die Jahrhunderte hinweg so häufig
auf und sind einander im Stil so ähnlich, dass ihre Verwendung über den bloßen Einsatz als »Werkzeug«, mit dem man Ereignisse ihren Schatten vorauswerfen lassen oder beim Publikum eine bestimmte Gefühlsreaktion erzeugen kann, hinausgeht.
Das erinnert mich an die Redewendung »Kunst imitiert Leben« – Visionen existieren in unseren Büchern und Filmen, weil sie zum menschlichen Leben dazugehören. Sie werden in unsere Geschichten eingeflochten, um uns unsere Unsicherheit und unsere Ängste erträglicher zu machen, doch nicht nur, um uns zu trösten, sondern auch deshalb, weil sie eine Wahrheit spiegeln, die unsere Vorstellungskraft übersteigt.
In diesem Kapitel habe ich eine kleine Auswahl von Visionen auf dem Sterbebett (sowie einige Hinweise auf »Reisen« und »überfüllte Räume«) aus unseren bekanntesten klassischen und modernen Werken zusammengestellt.
Visionen auf dem Sterbebett in der Literatur
Die Leserinnen und Leser im Amerika der Mitte des 19. Jahrhunderts wären entsetzt gewesen, wäre die kleine Eva aus Harriet Beecher Stowes Klassiker Onkel Toms Hütte (1852) 4 elend gestorben ohne den geringsten Hinweis
darauf, dass ihr Beitrag zum Kampf gegen die Sklaverei sich gelohnt hatte. Menschen auf der ganzen Welt waren von Stowes Geschichte vom amerikanischen Süden und dem Schicksal der kleinen Eva zutiefst betroffen, daher hätte es Millionen das Herz gebrochen, wäre sie so übergangslos dem Vergessen anheim gefallen.
In der Szene unmittelbar vor dem Tod des kleinen Mädchens finden wir ein klitzekleines Quäntchen Trost in Form einer Vision, die sich in ein Gespräch zwischen Onkel Tom und Miss Feely schleicht:
»Onkel Tom, hat Miss Eva dir gesagt, dass es ihr heute schlechter geht als sonst?«
»Nein, aber sie hat mir heute Morgen gesagt, dass sie näher komme – da sind welche, die es dem Kind sagen, Miss Feely. Es sind Engel. ‚Es ist der Posaunenschall vor Anbruch des Tages’«, zitierte Tom aus einem seiner Lieblingsbücher.
Dieses Gespräch deutet an, dass Eva Besuch von Engeln hatte. Das hätten wir ihr ja nun nicht gerade gewünscht, aber es ist doch tröstlich zu wissen, dass sie im Himmel ist. Wir sind dankbar, dass die Autorin weder ihre Leserinnen und Leser noch die kleine Eva verlassen hat.
Visionen in der Literatur werden von manchen abfällig als »Trostpreise« betrachtet, will heißen, sie werden ersonnen, um einen trauernden Angehörigen oder einen Sterbenden zu trösten. Kritiker sehen hier nur einen deus
ex machina am Werk (ein künstlicher oder unwahrscheinlicher Kniff, der die Schwierigkeiten einer Geschichte löst), also etwas oder jemanden, der auf den letzten Drücker eingreift und eine verunglückte Geschichte rettet … oder zumindest unseren Glauben wiederherstellt und dafür sorgt, dass wir mit der Situation besser zurechtkommen.
Allgemein herrscht die Auffassung, dass die Geschehnisse in einer Geschichte vollständig aufgelöst werden müssen, damit die Leserinnen und Leser erfüllt und zufrieden sind. Bleibt eine solche Erwartung durch den Tod einer Figur unerfüllt, so kann eine Vision aus einer anderen Welt eingeführt werden. Das vermittelt sowohl der Figur als auch den Leserinnen und Lesern das »Gefühl eines Abschlusses«, wie es der angesehene britische Kritiker Frank Kermode elegant formuliert hat.
Ein gutes Beispiel ist der moderne Bestseller In meinem Himmel 5 von Alice Sebold, der aus einer visionären Perspektive verfasst ist. Susie Salmon, die Erzählerin, ist ein junges Mädchen, das brutal ermordet wurde. Aus dem Himmel kann Susie nun das Leben beobachten, das sie hinter sich gelassen hat, und die Ereignisse nach ihrem Tod kommentieren. Diese Technik schenkt den Leserinnen und Lesern Trost: Zwar war der Mord an Susie schockierend und entsetzlich, aber wir wissen von Anfang an, dass es ihr jetzt in gewissem Sinne gut geht. Im Verlauf
der gesamten Geschichte ist sie bei uns und beobachtet, wie ihre Familie mit ihrem Tod fertig wird, innerlich wächst und weiterlebt. Uns
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