Am Ende ist da nur Freude
erkannte sie immer noch keinen von uns und wusste auch nicht, dass sie einen Unfall gehabt hatte. Ein paar Tage lang vermutete ihr Arzt, dass sie eine Hirnblutung erlitten hätte, was die Neurologen mit einem MRT bestätigten. In der schrecklichen Zeit, in der man nicht weiß, ob der Mensch, den man liebt, durchkommt oder nicht, saß ich an Jessicas Bett.
Plötzlich rief Jessica aus: »Mam, das bist ja du. Ich kann es gar nicht glauben, dass du da bist!«
Ihre Mutter war 1995 gestorben. Das war vor etwa sechs Jahren, und ich kannte Jessica als praktisch veranlagten und realistischen Menschen. Sie selbst hätte nie an Visionen von verstorbenen Angehörigen geglaubt. Ich war erschrocken und hatte Angst, denn nach so vielen Jahren auf Intensivstationen verschiedener Krankenhäuser, in denen ich so oft mit Sterbenden zu tun gehabt hatte, wusste ich, dass der Anblick eines verstorbenen Verwandten normalerweise nur eines bedeuten kann. Also nahm ich es als Anzeichen ihres nahen Todes, dass Jessica mit ihrer Mutter sprach, fast so sicher wie ein Herzstillstand.
»Mutter! Mutter!«, rief Jessica immer wieder. Doch was sie dann sagte, brachte mich völlig durcheinander. »Mutter? Dreh dich um … hier bin ich! Warum schaust du mich nicht mehr an?«
Ich war mir sicher, dass Jessica ihre Mutter gesehen hatte, aber ich konnte nicht verstehen, warum sie sie bat, sich umzudrehen. Sie bedrängte ihre Mutter weiter inständig: »Es ist so schön, dich zu sehen, aber warum drehst du dich nicht zu mir? Warum gehst du weg?«
Ich wusste nicht, was ich mit dem anfangen sollte, was ich da hörte. Familienmitglieder und Freunde kamen und gingen. Mir fiel auf, dass sie sich große Sorgen machten und fast durchdrehten. »Warum spricht sie mit ihrer toten Mutter?«, fragten die meisten. Wir alle sahen, wie
Tränen über Jessicas Wangen liefen, als sie schluchzte: »Mam ist wieder weg.«
Ich werde es nie vergessen, weil es so echt war. Jessica sah tieftraurig aus, besonders als sie sagte, ihre Mutter ginge weg. Ich konnte sogar spüren, wie sich durch Jessicas intensive Gefühle die Atmosphäre im Zimmer veränderte, als ihr klar wurde, dass ihre Mutter nicht wiederkommen würde. So hatte ich meine Nichte noch nie weinen sehen, denn ihre Tränen waren die eines Menschen, der gerade zurückgewiesen worden war.
»Es war so schön, sie wiederzusehen«, sagte Jessica, immer noch unter Tränen. Sie atmete ein und ergänzte nur noch »weg«. Dann schlief sie rasch ein.
Als Jessica am nächsten Morgen aufwachte, war die Erinnerung zurückgekehrt. Aber weder an die Vision noch an den Unfall konnte sie sich erinnern. Bis heute weiß sie nicht mehr, dass sie vom Pferd gefallen ist, ins Krankenhaus gebracht worden ist und mit ihrer Mutter gesprochen hat.
Damals war ich zutiefst erschrocken, weil ich dachte, die Tatsache, dass meine Nichte ihre Mutter sah, könne nur bedeuten, dass sie sterben würde. Aber ich erfuhr, dass das nicht unbedingt der Fall sein muss.
Tatsächlich geschehen außergewöhnliche Dinge; ich weiß, dass Jessicas Mutter wirklich zu ihr gekommen ist, sich dann umgedreht hat und wieder gegangen ist.
In all den Jahren auf der Intensivstation habe ich viele Visionen auf dem Sterbebett miterlebt. Dabei wusste ich
immer, wenn ein Patient so etwas erlebt, dann steht der Tod unmittelbar bevor. In diesem besonderen Fall kann ich nur vermuten, dass es für Jessica einfach noch nicht an der Zeit war zu gehen.
Ein weiser Arzt
von Don
Das erste Mal, dass ich überhaupt mitbekam, dass ein Patient eine Vision hatte, war bei einer Familie, die ich bereits seit vielen Jahren kannte. (Das war noch zu der Zeit, als ein einziger Allgemeinarzt die ganze Familie behandelte und bei allen Geburten und Sterbefällen zugegen war.) Mein Patient hatte eine radikale Prostataektomie überstanden und gerade erst die Kontrolle über seine Blase wiedererlangt, als er sich eine Hepatitis zuzog. Schließlich wehrte sein Körper eine Bluttransfusion ab, er fiel ins Koma und lag im Sterben. Seine Frau und sein Sohn waren an seiner Seite, als er verschied.
Ein Jahrzehnt später starb Regina, die Witwe dieses Mannes, an Herzversagen. Wieder war ich der behandelnde Arzt.
Regina war ihrer Familie immer eng verbunden gewesen, besonders seit ihr Mann verstorben war. Jetzt war sie sehr krank, aber sie schaffte es noch zur Graduiertenfeier ihres Enkels an der Hochschule für Wirtschaft. Kurz danach zeigte sich jedoch deutlich, dass sich ihr Zustand rasch
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