Am Ende ist da nur Freude
bleibt das Gefühl, dass Susie immer noch da ist und höchstwahrscheinlich eines Tages ihre Lieben in Empfang nehmen wird, wenn diese sterben.
Die Einschätzung, dass Visionen in der Literatur reine Erfindung sind und einzig und allein als künstliche Lösung für Probleme im logischen Ablauf einer Geschichte dienen, stelle ich in Frage. Im Leben ist der Tod mehr als ein »dramatisches Problem«, und Visionen auf dem Sterbebett sind anscheinend Lösungen aus einer unsichtbaren Welt, die viel Trost spenden – den Sterbenden ebenso wie den Trauernden.
Zwar werden Visionen auf dem Sterbebett heute oft als Produkte einer Schwäche oder gar Psychose angesehen, doch wenn wir in der Zeit zurückschauen, stellen wir fest, dass die ältesten Geschichtenerzähler sie (und ihre nahen Verwandten, die Träume) als Formen höherer Information betrachtet haben. Ja, Visionen gehen bis auf die allerersten Anfänge der westlichen Literatur zurück und kommen in jedem Zeitalter vor, einschließlich unseres eigenen.
Wir können uns Visionen in der Literatur als den Zustellservice der Götter denken, ein Mittel, durch das sie mit der Menschheit kommunizieren und Einfluss auf sie
ausüben. So kann eine Vision auch geheimnisvoll prophetisch sein, besonders wenn um die Ecke schon der Tod lauert. Nehmen wir zum Beispiel das mesopotamische Gilgamesch-Epos , das zu den ältesten literarischen Werken der Menschheit gehört. In diesem epischen Gedicht feiern Enkidu und sein geliebter Kamerad Gilgamesch nicht, als sie ein Ungeheuer erschlagen haben, weil Enkidu einen erschreckenden Traum hatte (Tafel VII), wonach die Götter ihn »wegnehmen« würden, wenn er das Ungeheuer vernichtete. Enkidu teilt seine Vorahnung dem Gilgamesch mit und sagt schaurig voraus: »Ich werde bei den Toten sitzen in der Unterwelt.« 6
Andere Visionen sind nicht so klar wie die des Enkidu, sondern stecken voller Symbolik, und es braucht Zeit, ihre Bedeutung zu entschlüsseln. In Sir Thomas Malorys Die Geschichte von König Artus und den Rittern seiner Tafelrunde 7 hat König Artus von seiner letzten, kataklysmischen Schlacht gegen Mordred eine beunruhigende Vision seiner Zukunft. Darin sieht er sich »in einem prachtvollen Goldgewand«. Doch in derselben Version sieht er sich auch in einem Sessel sitzen. »Tief unter ihm war ein grässliches, tiefes schwarzes Wasser voller Schlangen und Würmer… « Zwar vermittelt dieses Bild dem Leser eine klare Botschaft, doch Artus selbst ist sich seines
Schicksals nicht gewiss. Er schreitet zur Schlacht, gebietet Mordreds Streitkräften zwar Einhalt, wird dabei aber selbst tödlich verwundet. Ein Boot bringt ihn nach Avalon, dem mystischen Reich zwischen Leben und Tod. Artus ist fort, aber seine Legende lebt und überstrahlt die Jahrhunderte wie das prachtvolle Goldgewand, das er in seinem Traum trug.
Der Schleier zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren hebt sich auch, wenn wir verzweifelt Ermutigung oder Hilfe brauchen. Ein gutes Beispiel findet sich in Harry Potter und der Feuerkelch , dem vierten Band der überaus beliebten Reihe. Gegen Ende und am Höhepunkt des Buchs sieht Harry die Geister seiner Eltern und seines Freundes Cedric, die von Voldemort getötet wurden. Sie schenken ihm in einem schrecklichen Augenblick Trost und helfen ihm, in Sicherheit zu gelangen. Es sollte nicht überraschen, dass sich viele solcher Visionen in Romanen für junge Erwachsene finden, denn sie spiegeln unseren Wunsch nach einem Glauben an ein Leben nach dem Tod und die Haltung, dass der Tod das Band der Liebe nicht durchtrennen kann.
In Shakespeares König Heinrich V. stirbt die beliebte Figur Falstaff hinter der Bühne, doch es wird eine Vision angedeutet, die er gehabt haben soll. Frau Hurtig berichtet:
Nein, gewiß, er ist nicht in der Hölle; er ist in Arthurs Schoß, wenn jemals einer in Arthurs Schoß gekommen ist. Er nahm ein so schönes Ende und schied von hinnen,
als wenn er ein Kind im Westerhemdchen gewesen wäre. Just zwischen zwölf und eins fuhr er ab, gerade wie es zwischen Flut und Ebbe stand; denn wie ich ihn die Bettlaken zerknüllen sah und mit Blumen spielen und seine Fingerspitzen anlächeln, da wusste ich, dass ihm der Weg gewiesen wäre; denn seine Nase war so spitz wie eine Schreibfeder, und er faselte von grünen Feldern. Nun, Sir John? Sagte ich; ei Mann, seid guten Muts! Damit rief er aus: Gott! Gott! Gott! ein Stücker drei- oder viermal. Ich sagte, um ihn zu trösten, er möchte nicht an Gott
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