Am Ende ist da nur Freude
denken, ich hoffte, es täte ihm noch nicht not, sich mit solchen Gedanken zu plagen. Damit bat er mich, ihm mehr Decken auf die Füße zu legen. Ich steckte meine Hand in das Bett und befühlte sie, und sie waren so kalt wie ein Stein; darauf befühlte ich seine Knie, und so immer weiter und weiter hinauf, und alles war so kalt wie ein Stein. 8
Wir erwarten, dass Falstaff von einem letzten erlösenden Blick in eine jenseitige Welt spricht, eine Welt, die ihn bald aufnehmen wird.
Ähnlich erinnert sich auch Artemio Cruz in Nichts als das Leben 9 , dem Meisterwerk von Carlos Fuentes, auf dem Sterbebett an die prägenden Momente seines Lebens:
» … ich spüre … rieche … fühle … höre … sie schieben mich … und ich berühre, rieche, schmecke, rieche die prächtigen Reliefs.«
»Während du Atem schöpfst, wird sich das weite Panorama vor dir auftun, und der sternenbesäte Himmel wird auf dich herabscheinen. … Und das flimmernde Licht wird dich mit … Stetigkeit umfangen.«
In diesen letzten glücklichen Momenten, in denen er noch bei Bewusstsein ist, formuliert Artemio unseren tiefsten Wunsch an den Tod: dass er eine Tür sei, die sich ins Kosmische und Transzendente öffnet. In diesem Fall vermittelt die Vision statt einer Botschaft des Göttlichen ein starkes Gefühl der Sehnsucht.
Das ruft mir den liebenswerten Smike in Charles Dickens’ Nicholas Nickelby (1839) 10 ins Gedächtnis. Smike ist ein enorm einfühlsamer Charakter, und der Verfasser geht sehr feinfühlig mit seinem Tod um:
Er fiel nun in einen leichten Schlummer, und als er erwachte, lächelte er wie früher. Dann sprach er von schönen Gärten, die, wie er sagte, sich weit vor ihm ausdehnten und mit vielen Männern, Frauen und Kindern – alle mit leuchtendem Antlitz – erfüllt wären; er flüsterte, dies wäre Eden – und dann verschied er.
In dem modernen Musical Les Misérables nach dem gleichnamigen Roman von Victor Hugo rundet eine Vision auf dem Sterbebett die Geschichte ab. Zu Anfang stirbt Fantine und überlässt ihre Tochter der Fürsorge durch Jean Valjean. Sie bittet ihn inständig, ihrer Tochter ein besseres Leben zu ermöglichen, als sie es hatte. Valjean erfüllt ihre Bitte. Als er selbst viele Jahre später stirbt, kehrt Fantine in einer Vision zu ihm zurück und geleitet ihn in den Himmel. In dem Roman wird Valjeans Tod auf ähnlich weltenthobene Weise geschildert:
Er war zurückgesunken. Die beiden Leuchter beschienen ihn. Sein weißes Gesicht blickte zum Himmel. … Die Nacht war sternenlos und tiefdunkel. Sicher stand ein Engel mit offenen Flügeln in der Finsternis, auf seine Seele wartend. 11
In seinem Schauspiel Der Tod eines Handlungsreisenden 12 aus dem Jahr 1949 verkörpert Arthur Miller die Vision auf dem Sterbebett in einer realen Person, nämlich in Willys älterem Bruder Ben Lorman. Gegen Ende überzeugt Ben Willy, dass er seinem Sohn Biff finanziell am besten helfen kann, wenn er sich auf das Abenteuer der Diamantensuche einlässt. (Mit Diamanten hatte Ben sein Vermögen
gemacht; hier symbolisieren sie den materiellen Reichtum, den Willy seiner Familie nie bieten konnte.)
Ben (mit einem Versprechen) : Da ist es dunkel, aber voller Diamanten.
Willy : Kannst du dir vorstellen, wie großartig der mit zwanzigtausend Dollar in der Tasche dastehen wird?
Linda (ruft aus ihrem Zimmer) : Willy! Komm rauf!
Willy (ruft zurück) : Ja! Komme gleich! Ist ein schlauer Plan, Liebling, das mußt du zugeben, oder? Sogar Ben sieht’s ein. Muß jetzt gehen, Liebes. Tschüß. (Fast im Tanzschritt geht er rüber zu Ben.) Stell dir vor! Wenn der Scheck kommt, ist er Bernard wieder um Längen voraus!
Ben : Eine rundum perfekte Sache.
Willy: Hast du gesehen, wie er vor mir geweint hat? O ich könnt’ ihn küssen, Ben!
Ben : Die Zeit, William, ’s ist Zeit!
Willy : O Ben, ich hab’ immer gewußt: Eines Tages schaffen wir’s, Biff und ich!
Ben (schaut auf seine Uhr) : Das Boot! Wir verspäten uns.
(Er geht langsam in die Dunkelheit hinein.)
Das »Abenteuer« ist Willys Tod; denn letztendlich kommt er zu dem Schluss, dass er seine Familie nur dann ernähren kann, wenn er sich umbringt, weil dann seine Lebensversicherung an sie ausbezahlt wird. Das Boot in der
Vision symbolisiert die »Reise«, die Willy machen zu müssen glaubt und die sein Schicksal besiegelt.
In Der Leopard (Giuseppe Tomasi di Lampedusas Roman von 1958 über einen sizilianischen Fürsten) 13 erlebt auch Don Fabrizio eine Vision auf
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