Am Ende ist da nur Freude
unheilbar war), half ich während der letzten sechs Wochen seines Lebens bei seiner Pflege. Ich war Therapeutin und hatte noch nie im Hospiz gearbeitet, daher war dies also das erste Mal, dass ich einen Sterbenden begleitete.
Ich hatte meinen sehr gläubigen Großvater nie richtig kennengelernt. Meine Eltern, die nicht religiös waren, kamen
bei einem Autounfall ums Leben, als ich vierundzwanzig war. Seither hatte ich das Gefühl, ich hätte ein wenig den Kontakt zu meiner Familie verloren, aber jetzt konnte ich meiner Großmutter und ihren beiden Schwestern helfen und hatte so die Chance, wieder Verbindung aufzunehmen.
Als die Gesundheit meines Großvaters immer weiter nachließ, versuchte ich, über seinen Zustand auf dem Laufenden zu bleiben. Denn ich wollte wissen, was ich zu erwarten hatte. Da ich gerne lese, sah ich jedes Mal, wenn ich eine Veränderung an ihm wahrnahm, nach, welches Symptom er im Augenblick zeigte. Außerdem fiel mir auf, dass er sich, je näher er dem Tode kam, umso mehr von seinen Lieben zurückzuziehen schien.
Für meine Großmutter war das sehr schwer, aber sie wollte nicht über ihre Gefühle reden. Eines Tages sprach Großpapa davon, »das Haus zu putzen« und »das Haus in Ordnung zu bringen«. Zuerst dachte ich, er wollte, dass ich sein Zimmer sauber machte, das aber tadellos war, deshalb sagte ich sanft: »Opa, der Boden ist sauber, und es steht alles an seinem Platz.«
»Nein, Katherine, das meine ich nicht.«
Mehr sagte er nicht. Kurz danach teilte uns sein Arzt mit, dass er die Woche wohl nicht überstehen würde, aber Großvater hielt durch. Wahrscheinlich hat er gespürt, dass wir mehr Zeit brauchten, um uns an seinen Tod zu gewöhnen.
Eines Tages fing Großvater an, von einem seiner Brüder zu reden, der bereits verstorben war. Er stünde in einer
Zimmerecke. »Ich muss dieses Haus in Ordnung bringen«, wiederholte er. Ich war mir nicht sicher, ob putzen, aufräumen und das Haus in Ordnung bringen dasselbe waren, auf jeden Fall sprach er immer wieder von allen drei Dingen und sagte, ihm bliebe nicht mehr viel Zeit.
Großpapa schlief sehr schlecht, und wir waren alle erschöpft, weil wir die ganze Nacht aufblieben, wenn er wach war. Wir machten uns Sorgen, dass er aufstehen könnte, wenn eine von uns einnickte, deshalb bestellten wir zu unserer Unterstützung eine Pflegerin, sie hieß Hilda.
Eines Abends saßen wir bei meinem Großvater, und er schaute wieder in die bestimmte Zimmerecke und sprach davon, sein Haus in Ordnung zu bringen. Hilda schaute mich an, und ich sagte ihr: »Das tut er ständig, er spricht immer davon, dass er sein Haus in Ordnung bringen und aufräumen muss. Aber machen Sie sich keine Sorgen, wir wollen nicht, dass Sie bei uns putzen.«
Sie sah mich verwundert an und erwiderte: »Er zitiert einen Abschnitt aus der Bibel.«
»Wirklich?« Ich war neugierig und zugleich peinlich berührt.
»Ja, aus dem Alten Testament. Der Prophet Jesaja kam zu Hiskia und sagte: Bring dein Haus in Ordnung, denn du sollst sterben und nicht am Leben bleiben.« 16
»Das meint er also mit ›das Haus in Ordnung bringen‹.
Mein Opa war Prediger, da ergibt es Sinn, wenn er aus der Bibel zitiert.«
»Prediger müssen ihr Haus in Ordnung bringen, um in Frieden sterben zu können, genau wie alle anderen auch. Ist Ihnen aufgefallen, ob er auf eine bestimmte Stelle im Zimmer geschaut hat?«, fragte sie.
»Ja, das hat er. Woher wissen Sie das?«
»Das tun viele Sterbende. Wissen Sie, wie der Bibelabschnitt, aus dem er zitiert hat, weitergeht?«
»Ich habe keinen blassen Schimmer«, erwiderte ich.
»›Da drehte er sein Gesicht zur Wand und betete zum Herrn.‹«
»Aha, dann geht es hier also um etwas Religiöses?«
»Nicht unbedingt. Beobachten Sie Ihren Großvater genau, wenn er wieder davon spricht, sein Haus in Ordnung zu bringen, und dabei in die Zimmererecke schaut. Ich wette, er schaut in Wirklichkeit gar nicht zur Wand, sondern sieht etwas anderes.«
»Sprechen manche Sterbende davon, weil es in der Bibel steht – oder steht es in der Bibel, weil genau das passiert, wenn wir sterben?«
»Ich glaube nicht, dass die Leute das aus einem bestimmten Grund tun«, vermutete Hilda. »Es passiert einfach. Sterbende sehen oft Gott oder Jesus oder sogar einen Verwandten, der bereits hinübergegangen ist.«
Nach Hildas Erklärung schien alles einen tiefen Sinn zu bekommen. Ich sagte meinem Großvater, ich sei sicher, dass sein Haus bereits in Ordnung sei. Ich fragte
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