Am Ende war die Tat
und daher länger als sonst im Studio war. Ihr sicherer Heimweg war trotzdem gewährleistet, denn auch Sayf al Din arbeitete noch, und als sie endlich fertig war, eskortierte er sie zur U-Bahn. Unterwegs plauderten sie. Er versprach ihr anspruchsvollere Aufgaben. Sie mache ihre Sache gut, sie habe den Dreh raus, sie sei verantwortungsbewusst und genau die Art Persönlichkeit, mit der er gern zusammenarbeitete. Mit ihm arbeiten, nicht für ihn, betonte er, und Ness glühte innerlich vor Freude beim Gedanken an die Partnerschaft, die dieses »Mit« implizierte.
Nachdem er sie bis zum Drehkreuz der U-Bahn-Station Covent Garden gebracht hatte, kehrte Sayf al Din zum Studio zurück, um seine Arbeit zu beenden. Er war unbesorgt, was Ness' weiteren Heimweg anging, denn sie musste nur ein Malin King's Cross umsteigen und konnte durch die beleuchteten Tunnel von einem Bahnsteig zum anderen gelangen, und der Fußweg von Westbourne Park nach Hause betrug höchstens zehn Minuten, eher fünf, wenn sie zügig ging. Sayf al Din hatte seine Pflicht getan, wie seine Mutter es ihm aufgetragen hatte, deren Interesse an dem schwierigen Mädchen ihm nach wie vor ein Rätsel war.
Da dieser Tag so voller positiver Erfahrungen gewesen war, gab Ness sich auf dem Heimweg von der U-Bahn weiteren Zukunftsträumen hin. Ihr Erfolg vernebelte ihre Gedanken, als sie die Elkstone Road überquerte. Sie ging durch Meanwhile Gardens ohne die Aufmerksamkeit, die ein Spaziergang an einem Winterabend in einem schlecht beleuchteten Park und einer übel beleumundeten Gegend erfordert hätte.
Sie sah nichts. Aber sie wurde gesehen. Auf halber Höhe der Wendeltreppe und somit allen Blicken entzogen, lauerte eine Schar, die schon lange auf einen Moment wie diesen gewartet hatte. Sie sahen Ness die Elkstone Road überqueren, und ein Nicken war alles, was sie brauchten, um zu wissen, dass dies das Mädchen war, auf das sie gewartet hatten. Mit der Lautlosigkeit und Grazie von Katzen bewegten sie sich die Treppe hinab und den Pfad entlang. Sie hasteten über einen der grasbewachsenen Hügel, und als Ness zum Parkausgang kam, der nie verschlossen wurde, weil es kein Tor gab, waren sie schon da.
»Na, du gelbhäutige Schlampe, gibste uns was?«, hörte Ness plötzlich von hinten. Weil sie sich gut fühlte, stark und allem gewachsen, brach sie die Regel, die vielleicht ihre Sicherheit hätte gewährleisten können. Statt um Hilfe zu rufen, wegzurennen, in eine Trillerpfeife zu blasen, zu schreien oder sonst irgendwie die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich zu lenken - selbst wenn solche Mittel zugegebenermaßen nur beschränkte Erfolgsaussichten hatten -, drehte sie sich um. Es war eine junge Stimme, und sie glaubte, damit werde sie fertig.
Womit sie nicht gerechnet hatte, war ihre Überzahl. Und was sie nicht wusste, war, dass es sich hier nicht um eine Zufallsbegegnung handelte. Acht Jungen standen vor ihr, und als sieerkannte, dass es zu viele waren, fielen sie auch schon über sie her. Ein Gesicht stach aus der Meute hervor - von Natur aus verzerrt, was den Ausdruck von Abscheu noch verschlimmerte. Ehe sie dem Gesicht noch einen Namen zuordnen konnte, traf sie ein Schlag in den Rücken, und sie fiel vornüber. Ihre Arme wurden gepackt. Sie wurde vom Gehweg in den Schatten der Bäume gezerrt. Sie schrie. Eine Hand legte sich über ihren Mund.
»Dir wird schon gefall'n, was wir mit dir vorha'm, Schlampe«, versprach Neal Wyatt.
Weder Kendra noch Dix waren zu Hause, als ein dreimaliges Klopfen an der Tür erschallte, gefolgt von einer Männerstimme mit einem starken pakistanischen Akzent. Wäre diese Stimme nicht gewesen, hätte Joel nicht geöffnet. Selbst jetzt zögerte er, bis er den Mann sagen hörte: »Sie müssen bitte die Tür öffnen, sofort, denn ich fürchte, die junge Dame hier ist schwer verletzt.«
Joel kämpfte einen Moment mit dem Schloss, dann öffnete er. Ein älterer Mann, der ihm vage vertraut schien, mit dicken Brillengläsern, angetan mit einem Shalwar Kamiz und einem Mantel darüber, hatte beide Arme um Ness gelegt. Sie stand kraftlos an ihn gelehnt und klammerte sich an die Mantelaufschläge. Ihre Jacke und der Schal waren verschwunden, ihr Pullover war an der rechten Schulter zerrissen und mit Dreck und Blut besudelt. Ihr Haar war platt gedrückt. An ihrem Kiefer prangten hässliche Blutergüsse, wie sie entstehen, wenn einem der Mund entweder zu oder weit offen gehalten wird.
»Wo sind deine Eltern, junger Mann?«, fragte der
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