Am Ende war die Tat
das nächste Mal besuchen, nehmen wir das Skateboard mit, Tobe«, versprach er. »Aber du muss' erst lernen, damit zu fahr'n. Wenn du richtig gut wirs', kannst du's Mum vorführ'n. Das lenkt sie von dem ab, was ihr so zu schaffen macht. Dann kann sie vielleicht nach Hause komm'.«
»Meinste echt?«, fragte Toby mit leuchtenden Augen.
»Ja. Glaub schon«, log Joel.
Die Hoffnung auf Carole Campbells Genesung hatte bei jedem ihrer Kinder eine andere Ausprägung. Die größte hegte Toby, dessen begrenzte Erfahrungen ihn noch nicht gelehrt hatten, seine Erwartungen nicht zu hoch zu stecken. Für Joel war sie ein flüchtiger Gedanke, wann immer er eine Entscheidung treffen musste, die die Sorge um seine Familie und ihren Schutz betraf. Ness hingegen scheute vor dem Gedanken an Carole zurück und wies ihn weit von sich. Um sich mit Träumereien von einem Leben abzugeben, in das ihre Mutter als die intakte und funktionierende Person zurückkehrte, die sie nie gewesen war, dazu fehlte Ness die Ruhe.
Das lag vornehmlich an Majidah und Sayf al Din. So wie sie auch dafür verantwortlich waren, dass Ness auf einmal Ambitionen für die Zukunft hatte und einen Plan, wie sie diese Ambitionen verwirklichen wollte.
Zuerst stattete Ness Fabia Bender beim Jugendamt in Oxford Gardens einen Besuch ab. Dort erklärte sie, sie wäre überglücklich und extrem dankbar - diese beiden Wörter inklusive Betonung hatte Majidah ihr ausdrücklich aufgetragen -, das Stipendium, den Zuschuss oder das Almosen oder was immer es war anzunehmen, was ihr ermöglichen würde, im nächsten Trimester am College einen Einführungskurs Hutmacherei zu belegen. Fabia erklärte, sie sei entzückt über diese Neuigkeit, wenngleich sie in Wahrheit von Majidah über jeden Schritt der Entwicklung hin zu diesem Punkt auf dem Laufenden gehalten worden war. Sie gab Ness Gelegenheit, den ganzen Plan vor ihr auszubreiten, und Fabia brachte Interesse, Ermutigung und Freude zum Ausdruck, als Sayf al Dins Jobangebot zur Sprache kam, ebenso wie Majidahs Darlehen, die Rückzahlungsmodalitäten, die vorgesehenen Arbeitsstunden bei gleichzeitiger Reduktion der Dienstzeiten in der Kindertagesstätte und alles Weitere, was auch nur entfernt mit Ness' Umständen zu tun hatte. Der Richter, versicherte Fabia, werde all dem zustimmen.
Die Sozialarbeiterin nutzte Ness' Besuch auch, um sich nach Joel zu erkundigen. Hier war Ness eher zugeknöpft. So weit traute sie Fabia Bender nun auch wieder nicht. Davon abgesehen, wusste sie selbst nicht so genau, was mit ihrem Bruder los war. Joel war vorsichtig und verschlossen geworden.
Natürlich entwickelte die Arbeit für Sayf al Din sich nicht so, wie Ness es sich gewünscht hätte. In ihrer Fantasie eroberte sie seine Werkstatt mit einem Feuerwerk von Ideen, die er allesamt überzeugend fand, sodass er ihr Zugang zu all seinen Materialien und der Ausrüstung gewährte. In diesem Wunschtraum zog er einen Auftrag der Royal Opera oder gar eines Filmproduzenten für ein opulentes Historiendrama an Land, und dieser Auftrag erwies sich als viel zu umfangreich, als dass ein Designer allein alle Entwürfe hätte machen können. Auf der Suchenach einem Partner wählte er Ness, so wie der Märchenprinz das Aschenputtel. Ness reagierte mit den angemessenen Zweifeln an ihren Fähigkeiten, die er jedoch beiseite fegte. Und dann wuchs sie über sich hinaus, kreierte ein Meisterwerk nach dem anderen in rasanter Folge und errang so einen hervorragenden Ruf, Sayf al Dins Dankbarkeit und eine geschäftliche Partnerschaft mit ihm.
In der Realität begann Ness' Tätigkeit im Hutmacherstudio mit dem Besen in der Hand und hatte wesentlich mehr Ähnlichkeit mit Aschenputtels Dasein vor dem Besuch der guten Fee. Sie war die Ein-Mann-Putzkolonne, die das Loft mit Handfeger, Kehrblech, Putzlappen und Mopp sauber halten musste. Die Aufgabe missfiel ihr, aber sie biss die Zähne zusammen.
Der Tag, da Sayf al Din ihr zum ersten Mal erlaubte, eine Heißklebepistole zu benutzen, war darum ein Glückstag. Ihre Aufgabe war simpel: Sie musste Perlen auf ein Band kleben, das einen winzigen Bestandteil des gesamten Kopfschmucks ausmachte. Doch selbst wenn ihr Beitrag noch so unbedeutend war, war er doch ein Schritt in die richtige Richtung. So entschlossen war Ness, diese Aufgabe mit Perfektion zu erfüllen und somit ihre Überlegenheit gegenüber den anderen Näherinnen unter Beweis zu stellen, dass sie viel mehr Zeit brauchte, als eigentlich nötig gewesen wäre,
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