Am Ende zählt nur das Leben
lange wie seit meinem Umzug nicht mehr. Ich konnte die Zeit bis zur Abreise kaum abwarten. Wenn Cay und ich mal wieder aneinandergerieten oder er desinteressiert auf dem Sofa lag, dann tröstete ich mich mit der Aussicht auf einen Monat Heimaturlaub.
Seit Wochen fragte ich mich, wie lange unsere Ehe wohl noch halten würde. Wir lebten uns immer mehr auseinander. Cay gab mir das Gefühl, ich hätte sein einstiges Leben umgekrempelt. Früher war es ihm doch immer gut gegangen. Er war der tolle Cay gewesen, war unabhängig, erfolgreich und sportlich gewesen. Und nun? Nur noch ein Nörgler und Schatten seiner selbst. Meistens versuchte ich die Misere unseres Beisammenseins zu ignorieren. Die Tage vergingen wie im Flug, ich genoss die Zeit mit Sarah, arbeitete gern in der Praxis und hoffte insgeheim auf ein Wunder.
Ende Mai war es endlich so weit. Ich nahm fast meinen gesamten Jahresurlaub, weil meine Schwester Ramona heiratete und ich bei den Vorbereitungen helfen wollte. Gemeinsam fuhren Cay, Sarah und ich in den Norden, aber mein Mann konnte nur eine Woche bleiben, weil er in der Firma gebraucht wurde. Vom ersten Moment an fühlte ich mich wieder zu Hause, und die Aussicht auf mehrere Wochen in der Heimat beflügelte mich regelrecht. Das Wohlgefühl verstärkte sich noch, nachdem Cay abgereist war. Es kam einem Aufatmen gleich, nachdem wir fast ständig Auseinandersetzungen gehabt oder schlichtweg aneinander vorbeigelebt hatten. Im Kreis meiner Familie und alten Freunde entdeckte ich eine unbändige Freude in mir, die viel zu lange gedämpft gewesen war. Stundenlang telefonierte ich mit Freunden, verabredete mich oder saß plaudernd bis in die Nacht hinein mit meiner Schwester Anja auf der Terrasse.
Sarah und ich hatten uns bei Anja einquartiert. Bei ihr liefen die Tage nach einem Rhythmus ab, der mir gefiel. Wir weckten die Kinder, frühstückten, schickten die Größeren zur Schule, aßen oft gemeinsam zu Mittag und spielten mit ihnen. Ich konnte Anja einige Arbeiten abnehmen, und sie kümmerte sich um Sarah, wenn ich mich am Abend mit Jugendfreunden verabredete. Ich lebte auf, und auch Sarah fühlte sich hier pudelwohl. Anja war begeistert von ihrer kleinen Nichte, die voller Tatendrang und Witz die Tage durchlebte. Stundenlang fuhr Sarah mit ihrem Bobby-Car auf dem Hof umher. Wenn ihr Cousin aus der Schule kam, rollte sie ihm ein Stück entgegen.
»Luuukas, komm … Essen ist fertig!«, rief sie laut und deutlich, wenn sie ihn sah. Einmal standen Anja und ich in der Hofeinfahrt eines Nachbarn und unterhielten uns mit ihm. In der Nähe lag seine Tiefgarageneinfahrt, die er jedoch nicht nutzen konnte, weil sie viel zu steil geraten war. Eine Treppe führte zwischen den beiden Fahrspuren hinunter. Während wir in unser Gespräch vertieft waren, hörten wir ein merkwürdiges Geräusch. Es war ein gleichmäßiges Scheppern, zehn- oder zwölfmal, gefolgt von einem dumpfen Stoß und einer Pause, bis es wieder gleichmäßig zu scheppern begann.
Wir wunderten uns darüber, aber unternahmen zunächst nichts. Mein Neffe fuhr auf der Straße Fahrrad. Wo war Sarah überhaupt? Und dann sah ich sie, wie sie mit ihrem Bobby-Car die steile Treppe zur Garage hinuntersauste und gegen das Tor rumste. Mühsam schleppte sie ihren fahrbaren Untersatz wieder herauf und sauste erneut hinunter.
»Mama, guck, was ich kann! Richtiges Auto«, rief sie, als sie mich sah.
»Deine Nichte! Schau mal, Anja, was sie nun schon wieder anstellt.«
»Woher hat sie diesen Mut?«, wollte meine Schwester von mir wissen und lachte.
Ich mochte kaum hinschauen, so waghalsig wirkte das Manöver. Mein Engelchen war wirklich ein Prachtstück.
Zu Roberts Eltern hatte ich in den letzten Jahren einen sporadischen Kontakt gehalten. Nun war endlich genügend Zeit, sie zu besuchen und ihnen meine kleine Sarah vorzustellen. Da ich kein Auto hatte, schlug Robert vor, mich abzuholen. Außerdem wollte er mir gern seinen neuen Wagen vorführen. Er kam gemeinsam mit Basti.
»Wozu brauchst du eigentlich einen Kombi?«, fragte ich ihn mit einem scherzhaften Unterton.
»Wer weiß, was noch kommt«, konterte er und schmunzelte.
»Oh, planst du etwas Größeres? Ist Zuwachs im Anmarsch?«
»Nun hör aber auf! Ich bin Single.«
Dann halfen mir die beiden mit dem Kindersitz für Sarah, und wir brausten los. Selbst diese kleine Spritztour machte mir große Freude. Ich fühlte mich so frei dabei, mit meinen beiden Freunden durch vertraute Straßen zu fahren.
Wir
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