Am Ende zählt nur das Leben
verspürte.
Bisher hatte ich mich noch nie länger als einen Abend von meiner Tochter verabschiedet, und es fiel mir unendlich schwer. Sie sollte nicht sehen, dass ich den Tränen nahe war, und so riss ich mich zusammen. Mit einem Lächeln winkte ich ihnen hinterher und fühlte den Kloß in meinem Hals.
Kaum drei Stunden später hielt ich es nicht mehr aus und rief Cay zum ersten Mal an. Ich wollte wissen, wo sie waren und ob es meinem Mäuschen gut ging. Die Trennung war ungewohnt und gab mir ein Gefühl von Leere.
»Wir sind gerade im Hamburger Hafen und schauen uns Schiffe an«, sagte Cay, als ich ihn am Apparat hatte. »Und ich weiß auch, wo ich jetzt viel lieber wäre.«
»Wo denn?« In mir stieg ein mulmiges Gefühl auf.
»Bei dir.«
»Jetzt genießt ihr erst einmal euren kleinen Urlaub, und dann sprechen wir weiter.«
Cay sollte so etwas nicht sagen. Es beunruhigte mich.
»Lass mich bitte mit Sarah sprechen.«
»Mama, hier sind ganz große Schiffe. So groß!«
»Mein Engelchen, ich habe dich ganz doll lieb. Nun machst du dir mit Papa einen schönen Urlaub, und ich freue mich schon darauf, wenn du zurückkommst.«
»Jaa!«
Mir kamen die Tränen, und ich konnte nicht weitersprechen. Als Cay den Hörer wieder nahm, schluckte ich sie hinunter.
»Schönen Urlaub noch. Wir reden ausführlich, wenn ihr wieder da seid. Bis bald.«
Dann legten wir auf.
Gegen Abend versuchte ich erneut, Cay zu erreichen, aber sein Handy war ausgestellt, und ich sprach auf die Mailbox. Immer wieder probierte ich es, aber Cay ging nicht an den Apparat. Mein mulmiges Gefühl verstärkte sich, und ich war machtlos gegenüber all den unerträglichen Fragen und Gedanken, die mir durch den Kopf schossen: Was, wenn er Sarah länger bei sich behält als geplant? Wenn er nicht nur zwei Tage wegbleibt? Wenn er mich damit strafen will? Er wollte sie eineinhalb Jahre bei sich behalten. Wie kann er sich nun mit einem Wochenende zufrieden geben?, überlegte ich. Im Geiste hörte ich Sarahs Stimme, auch wenn sie weit weg war. Im nächsten Moment glaubte ich sogar, dass sie durch die Tür kam, und ich wurde immer unruhiger, weil es eben leider nicht so war. Ich wollte nichts lieber, als mit meiner Sarah sprechen.
Ich schrieb Cay eine SMS mit der Bitte um Rückruf, dann eine zweite und dritte. Als keine Antwort kam und ich die Ungewissheit nicht mehr ertrug, rief ich Robert an.
»Ich habe ein komisches Gefühl. Ich kann Cay nicht erreichen und mache mir Sorgen. Er hat sein Handy ausgestellt.«
»Vielleicht möchte er einfach nur seine Ruhe haben und allein mit Sarah sein. Es ist sicher nicht einfach für ihn zu verkraften, dass eure Ehe gescheitert ist. Auch wenn er es geahnt haben muss. Es ist ein schwerer Schlag. Er wird nachdenken wollen.«
»Du nimmst ihn auch noch in Schutz. Es ist gemein von ihm, das Telefon abzuschalten. Ich will wissen, wie es Sarah geht. Das kann er doch nicht machen. Sie ist meine Tochter!«
»So beruhige dich doch.«
Ich rief andere Freundinnen und Freunde an, aber alle sagten das Gleiche: Ich solle mir keine Sorgen machen und abwarten.
Anja versuchte mich abzulenken. Gemeinsam machten wir das Abendbrot, und ich half ihr, die Kinder ins Bett zu schicken. Dabei sehnte ich mich noch mehr nach meinem eigenen Kind. Wie wird Sarah wohl aussehen, wenn sie selbst so groß ist wie ihre zehnjährige Cousine?, dachte ich.
Die Nacht war ein Albtraum. Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Was mochte Cay gerade tun? Wie ging es Sarah? Was dachte er über unser Gespräch? Was dachte er über die Annäherung von Robert und mir? Was, wenn er sich vorstellte, Robert werde seine Stelle auch bei Sarah einnehmen? Dieser Gedanke machte mir plötzlich Angst. Das musste der schwerste Schlag für ihn sein. Vielleicht fürchtete er, seine Tochter zu verlieren. Aber das wollte ich auf keinen Fall. Es musste doch eine Lösung geben. Andere Kinder haben auch getrennt lebende Eltern. Es gibt immer einen Weg. Aber was, wenn Cay es anders sah? Was, wenn er mir Sarah wegnehmen wollte? Warum hatte er das Telefon ausgestellt? Warum konnte ich meiner Tochter keine Gute Nacht wünschen? Mein Engelchen, du fehlst mir so.
Die Ungewissheit machte mich wahnsinnig. Was mochte in Cays Kopf vor sich gehen? Stuttgart war weit weg von hier. Wie sollte er Sarah regelmäßig sehen? Was würde er seinen Eltern sagen? Hatte er, rechtlich gesehen, überhaupt die Möglichkeit, mir Sarah wegzunehmen? Ich bin eine gute Mutter. Das kann jeder bezeugen.
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