Am Ende zählt nur das Leben
machte sie doch sonst nicht. Ramona starrte mich aus weit aufgerissenen Augen an.
»Sarah lebt nicht mehr«, sagte meine zweitälteste Schwester plötzlich, und Tränen liefen ihre Wangen hinunter. Erneut versuchte ich zu begreifen, was diese Worte bedeuteten. Sarah lebt nicht mehr. Und was hatten die Worte mit den drei Männern zu tun? Ich bebte und fühlte die Arme meiner Schwester, die mich halten wollten. Meine Schreie waren verstummt. Das Entsetzen lähmte meine Stimme, mein Gefühl und meinen Verstand.
Ich stand mitten im Wohnzimmer, das Wasser meiner nassen Haare lief mir den Hals hinunter und wurde vom Badehandtuch aufgesaugt. Meine Knie zitterten, und mein Hals tat weh. Warum sagte niemand etwas? Alle starrten mich an. Ich hörte meine Nichte aus dem Kinderzimmer heraus weinen. Anja eilte zu ihr.
»Was ist los?«, brachte ich irgendwann heraus. »Was ist passiert? Wo ist meine Sarah?«
»Sie lebt nicht mehr und Ihr Mann auch nicht«, sagte der Pastor.
Er kam jetzt direkt auf mich zu. Dann stand auch Anja wieder neben ihm und umarmte mich.
»Wollen Sie sich nicht erst einmal etwas anziehen?«, fragte der Pastor, und ich versuchte den Sinn seiner Frage zu begreifen.
»Es handelt sich um einen Fall von erweitertem Suizid«, sagte einer der Polizisten.
Ich begriff überhaupt nichts mehr. Vollkommen verständnislos suchte ich nach einer Erklärung, einem Ausweg, einer Lösung. Ich stand regelrecht neben mir, ganz so, als beobachtete ich eine Szene, die nichts mit mir zu tun hatte. Vielleicht war das alles ja nur ein furchtbarer Traum.
Ramona schossen immer mehr Tränen aus den Augen. Sie schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte. Vor wenigen Tagen hatten wir ihre Hochzeit gefeiert, und sie hatte so glücklich ausgesehen. Jetzt stand ihr das Grauen ins Gesicht geschrieben. Was war nur los?
Ich schnappte nach Luft. Kurze Atemzüge hoben und senkten meine Brust. Sarah und Cay sollten tot sein? Aber warum? Was hatte der Polizist gesagt? Und was versuchte der Pastor mir zu erklären?
»Die Polizei hat nach Ihnen gesucht. Zunächst in Stuttgart.«
»Nach mir? In Stuttgart? Warum?«
»Dort sind Sie doch gemeldet.«
Ich konnte ihm kaum zuhören.
»Als in eurer Wohnung in Stuttgart niemand war, haben sie dich über unseren Geburtsnamen gesucht und waren zuerst bei mir«, brachte Ramona schluchzend hervor.
»Was ist nur los? Was ist passiert?«, wiederholte ich immer wieder.
»Wir sind froh, dass Ihnen nichts geschehen ist«, sagte einer der Polizisten, und ich verstand noch weniger.
»Wo ist Sarah?«, fragte ich und fühlte mein Herz im Hals pochen.
»Setzen Sie sich doch erst einmal hin. Ich kann selbst nicht fassen, was passiert ist«, sagte der Pastor. Ramona führte mich zum Sofa, und Anja ging zu ihren Kindern, deren Weinen aus dem Nebenzimmer zu uns herüberdrang. Ich schaute den Pastor an, der erneut nach Worten zu suchen schien, und versuchte mich zu konzentrieren. Ich bebte, und meine Zähne schlugen aufeinander.
»Ihre Tochter wurde tot in der Badewanne eines Hotels aufgefunden.«
Mein Hals schmerzte, meine Stimme war rau und heiser. Nur mit Mühe brachte ich Worte hervor, die nach Erklärungen suchten. Ich wollte verstehen, aber eine unglaubliche Lähmung hatte mich erfasst. Ich war vollkommen starr. Diese Starre ängstigte mich bald selber. Je länger die Männer sprachen, desto lauter wurde das Weinen der Kinder im Nebenraum.
»Ihr Mann hat sich erhängt. In einer Autobahnraststätte«, sagte der Polizist.
Ich schaute die Männer an und versuchte verzweifelt, ihre Worte zu begreifen.
»Aber wieso ist Sarah tot? Wie konnte das passieren?«
Als ich keine Antwort bekam oder die Worte der Anwesenden vielleicht auch nicht mehr aufnehmen konnte, trat ich hinaus in den Garten. Wie in Trance wandelte ich zur Toreinfahrt und auf die Straße hinaus. Ich weiß nicht mehr, ob jemand an meiner Seite war und ob mir jemand etwas zu erklären versuchte. Meine Tochter war gestorben. In einer Badewanne. Mein Mann war tot. Er hatte sich erhängt. Warum? Gab es einen Zusammenhang? Und wenn es einen gab, dann verstand ich ihn einfach nicht.
Aus den Augenwinkeln sah ich meinen Vater, der in seltsam gebückter Haltung niederkniete und weinte. Er weinte im Garten meiner Schwester. Ich hatte ihn noch nie weinen gesehen.
Als ich mitten auf der Straße stand, nahm Anja mich in den Arm. Nachbarn starrten mich an. Warum standen sie vor unserem Haus, und was versuchte meine Schwester ihnen zu
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