Am Ende zählt nur das Leben
ertränkt hat. Ich will das nicht, aber ich steigere mich in diesen furchtbaren Gedanken hinein und kann nichts dagegen tun. Wenn ich mir ihren Kampf vorstelle, dann muss ich automatisch nach Luft schnappen. Manchmal habe ich Angst, dabei zu ersticken. Es ist ganz schlimm. Es schnürt mir fast die Kehle zu.«
»Anja! Das Gleiche habe ich auch schon oft gedacht. Mir geht es genauso wie dir. Ich mag mir nicht vorstellen, was sie in ihren letzten Minuten durchgemacht hat. «
»Es wäre sicher besser, wenn wir uns das nicht vorstellen würden. Es tut so weh. Ich fühle diese furchtbare Atemnot körperlich. Meistens passiert mir das beim Joggen, wenn die Gedanken durch meinen Kopf rasen. Dann habe ich dieses entsetzliche Bild vor Augen und muss sofort stehen bleiben und nach Luft schnappen. Wir sollten diesen Moment aus unserer Erinnerung streichen oder ihn vielleicht irgendwo ablegen, wo er uns nicht urplötzlich überfallen kann. Wir müssen nach vorne schauen. Die Vergangenheit ist nicht zu ändern, aber das Leben geht weiter.«
»Das ist alles so schwer.«
»Ja, aber es bleibt uns nichts anderes übrig. Am Ende zählt nur das Leben.«
»Es klingt so selbstverständlich, wenn du das sagst.«
»Aber so ist es doch auch.«
»Mir ist das Leben oft zu viel.«
»Heute war doch auch für dich ein schöner Tag, oder?«
»Ja, ein schöner Tag.«
Wir schwiegen in die Nacht hinein, und ich dachte über die Worte meiner Schwester nach. Ich war so froh, sie an meiner Seite zu haben.
»Und weißt du noch etwas? Ich mache mir schreckliche Vorwürfe. Ich hätte es verhindern können«, sagte sie plötzlich.
»Anja, wie meinst du das?«
»Als Cay mit Sarah im Auto saß und die beiden losfuhren, du weißt schon, der Moment auf der Auffahrt, als Sarah in ihrem Kindersitz saß und winkte, da hatte ich ein ungutes Gefühl. Ich wollte nicht, dass er sie mitnimmt. Ich war kurz davor, ihnen hinterherzulaufen und sie aus dem Auto zu holen. Aber was hätte ich sagen sollen? Wie hätte ich das erklären sollen? Cay, ich will nicht, dass du deine Tochter mitnimmst! Aber glaub mir, Katja, ich habe in dem Moment wirklich gedacht: Das geht nicht gut. «
Uns kamen die Tränen. Gemeinsam weinten wir in eine laue Sommernacht hinein. Wo war mein Engelchen jetzt?
»Sarah war ein wunderbares Mädchen. Weißt du noch, wie sie im Heidepark im Riesenrad saß und nicht wieder runterwollte, weil sie es so toll fand? Uns wurde schon vom Hinsehen schwindelig«, sagte meine Schwester nach einer Weile und grinste.
»Sie war eine total verrückte kleine Maus«, sagte ich und musste beim Gedanken an eine andere Karussellfahrt schmunzeln. »Da gab es doch noch dieses Ding mit den seltsamen Anhängern, die sich erschreckend schräg in die Kurve legten. Sarah fand es toll. Keine Ahnung, woher sie den Mut nahm. Sie wäre bestimmt fünfmal mit ihrem Cousin hineingegangen, wenn wir sie nicht daran gehindert hätten.«
»Meine mutige Nichte! Sie fehlt mir so.«
»Denk mal an die Geschichte mit der Treppe und ihrem Bobby-Car«, sagte ich und musste lachen.
»Da waren wir wirklich von den Socken!«, lachte nun auch Anja.
»Angst schien sie nicht zu kennen.«
»Unsere Kleine wäre bestimmt irgendwann im Zirkus aufgetreten.«
Rückkehr ins Leben
Robert und ich buchten eine Reise in den warmen Süden. Es war seine Idee gewesen, im Herbst noch einmal in die Sonne zu fliegen und weit weg von zu Hause zu sein. Davon versprach er sich Hilfe für mich. Irgendwie musste ich doch ein wenig aufzuheitern sein. Und wenn das nicht in der Heimat funktionierte, wo die Erinnerungen zu stark waren, um mich abschalten zu lassen, dann vielleicht während einer kleinen Reise. Inzwischen waren über drei Monate seit Sarahs Tod vergangen, aber ein normales Zeitgefühl hatte ich ohnehin verloren.
Tatsächlich gelang es mir, am Mittelmeer für einige Stunden des Tages abzuschalten und mich fast wie eine normale Touristin zu benehmen. Ich badete im Meer, machte mich fürs Abendessen hübsch und ließ mich sogar auf die Tanzfläche führen. Robert tat alles, um mich abzulenken. Ihm fielen ständig neue Späße ein, und ich war ihm unendlich dankbar dafür. Er meldete mich sogar für eine Modenschau an, bei der ich über einen Laufsteg stolzierte. Abgemagert, wie ich war, passte ich in Größe 36 und sah angeblich bezaubernd aus.
Doch wenn mich die Traurigkeit einholte, konnte mir niemand helfen. Dann blieb ich in unserem Zimmer, starrte an die Decke und dachte an meine
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