Am Ende zählt nur das Leben
im selben Alter wie Ihre Kleine. Es tut mir wirklich unendlich leid, was mit Sarah passiert ist.«
»Sie müssen sich nicht entschuldigen … niemand kann so etwas begreifen.«
»Es gibt einiges, was Sie sich ansehen sollten«, sagte er, nahm einige Seiten aus der Akte und legte sie mir vor. Anfangs überflog ich die Zeilen nur, weil ich fürchtete, den Inhalt nicht zu verkraften. Doch ich wollte zumindest informiert sein über einige Hintergründe in der Korrespondenz des Rechtanwalts mit den Versicherungen. Dafür waren die Informationen der ermittelnden Behörden von entscheidender Bedeutung. Im sachlich formulierten Polizeibericht stieß ich auf die Vermutung der Beamten, Cay habe die Absicht gehabt, auch mich mit in den Tod zu nehmen. In seinem Wagen befanden sich sogenannte Kälberstricke, geeignet zum Erhängen von Menschen. Mit solch einem Strick hatte er sich in einer Autobahnraststätte erhängt. Als ich den Bericht über den Tatort im Hotel entdeckte, blätterte ich weiter. Die Details wären zu viel für mich, aber ich las zumindest, was die polizeiliche Untersuchung ergeben hatte: Meine Tochter war am Abend zwischen 22 und 24 Uhr ertränkt worden. Cay hatte sich zwischen 23 und 24 Uhr erhängt. Am Morgen war Sarah von einem Zimmermädchen gefunden worden. Nach dem Auffinden der Leiche war eine Fahndung in Gang gesetzt worden. In diesem Zusammenhang suchte man nach mir und war in unsere gemeinsame Wohnung in Stuttgart eingedrungen.
Auch hier tauchte der Begriff des erweiterten Suizids mehrfach auf, dessen Ausgangspunkt zumeist eine schwere psychische Krankheit ist. Cay wollte aus dem Leben treten. Nachdem er Sarah getötet hatte, blieb ihm nichts anderes mehr übrig. Cay war psychisch krank. Depressiv! Wie hatte er diese Krankheit verheimlichen können? Anscheinend wusste nur Petra etwas davon. Alle anderen gemeinsamen Freunde waren genauso überrascht wie ich. Welche Art von Depression zeigt derartige Auswirkungen? Ich hatte mir immer vorgestellt, ein depressiver Mensch sitze schwermütig in der Ecke und sei ohne jeglichen Antrieb. Doch diese Stimmung spiegelte nur einen Teil von ihm. Er war gleichermaßen voller Elan und Überschwang. Ich verstand die Welt nicht mehr. Eigentlich wollte ich mich nicht unentwegt mit Cay beschäftigen, sondern ihn vergessen, denn ich zeigte selber zunehmend Anzeichen von Depression. Meine Familie und insbesondere Robert machten sich ernsthafte Sorgen um mich.
Keine Normalität
Nachdem ich wieder halbwegs in einem normalen Leben angekommen war, eine Arbeitsstelle gefunden hatte, mein Tagesablauf geregelt war und ich eine gewisse Routine im Umgang mit den tragischen Ereignissen fand, häuften sich meine psychischen Einbrüche. So stabil, wie ich bei der täglichen Routine wirkte, so labil zeigte ich mich bei den kleinsten Anlässen. Wenn Robert und ich gemeinsam einen Film schauten und eine traurige Szene lief, fand ich kein Halten mehr. Meine Tränen strömten, und nichts und niemand konnte sie aufhalten. Manchmal brauchte es nicht einmal einen erkennbaren Grund, um mich zum Weinen zu bringen. Ich saß auf dem Sofa und heulte, ich saß am Steuer und heulte, ich ging spazieren und heulte. Ich heulte aus Mitgefühl, Traurigkeit und auch aus Wut. Ein Foto in einem Magazin, eine erschütternde Zeitungsmeldung, eine Naturkatastrophe am anderen Ende der Welt, ein Kriminalfall, ein Unglück, einfach alles brachte mich zum Weinen. Ich fühlte bei jeder noch so winzigen Störung mit. Selbst eine entlaufene Katze machte mich traurig. Ich wünschte mir, dass niemand Kummer hatte und traurig war.
Und dann musste ich einen Grabstein aussuchen. Beim Steinmetz arbeitete der Freund einer früheren Arbeitskollegin, der mich noch aus meiner Ausbildungszeit kannte.
»Katja?«
Zunächst stutzte ich, aber dann erkannte ich sein Gesicht wieder.
»Ich habe gehört, was passiert ist. Das tut mir sehr leid.«
Er zeigte mir die verschiedenen Grabsteinmodelle, und ich wählte einen rechteckigen Stein in rötlicher Färbung.
Sarah * 24.1.2004 † 7.6.2006
Einen Nachnamen ließ ich nicht einfügen, es wäre Cays Familienname gewesen, mit dem ich innerlich abgeschlossen hatte.
Auf dem Gelände gab es wunderschöne Steinskulpturen. Ein Engel hatte es mir besonders angetan, aber er war viel zu teuer für meinen Geldbeutel.
»Schau dir doch mal die Gravuren an. Sie sind auch sehr schön. Ich schenke dir eine«, sagte der Steinmetz zu mir.
»Wirklich? Das ist aber lieb von dir. Ich weiß
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