Am Ende zählt nur das Leben
davon? Mit wem war ich überhaupt verheiratet gewesen? Wie ahnungslos und dumm war ich denn? Wie konnte er das alles vor mir verheimlichen, wenn seine Exfreundin bestens Bescheid wusste? In meiner Ehe musste einiges an mir vorübergegangen sein. Aber was hatte das alles mit seiner Wahnsinnstat zu tun? Wie ließen sich Geldverschwendung und ein erweiterter Selbstmord in Zusammenhang bringen? Es musste etwas geben, was sich im Geheimen abgespielt hatte. Ein anderes Leben. Ein zweites Leben.
»Hast du den Artikel gelesen?«, fragte ich, und Petra nickte.
»Es tut mir sehr leid. Ich wünsche dir alles Gute, dir und deiner Familie. Ich muss jetzt los.«
Fassungslos stand ich im Treppenhaus. Ich hörte ihre Autotür klappen, irgendwo lief ein Radio, am Abend sollte Deutschland spielen.
Mir steckte ein Kloß im Hals, der mich am Sprechen hinderte. Ganz langsam versuchte ich einige Puzzlesteine zusammenzufügen. Welche Art von Behandlung konnte Petra gemeint haben? Unter welchen psychischen Problemen hatte mein Mann gelitten, ohne dass ich es wusste? Auch von seinen Eltern hatte ich nie eine Andeutung zu diesem Thema aufgeschnappt. Wir waren mehrmals mit Freunden im Urlaub gewesen, man kannte sich seit Jahren, und wir verbrachten mehrere Tage gemeinsam in einem Appartement. Niemals war dabei eine mögliche Depression zur Sprache gekommen. Niemand hatte mich je darauf angesprochen.
»Robert, hast du gemerkt, dass Cay psychisch krank war? Ist dir etwas an ihm aufgefallen?«, fragte ich in meiner Ratlosigkeit. Inzwischen zweifelte ich mehr denn je an meiner Wahrnehmung.
»Nein, aber ich habe ihn doch immer nur mal kurz erlebt, wie du weißt.«
»Hast du jemals gedacht, dass mit ihm etwas nicht stimmte?«
»In meinen Augen war er so ein Wichtigtuer, ein Blender, kann man vielleicht sagen. Von einer psychischen Krankheit hat man ihm jedenfalls nichts angemerkt. Was soll das für eine Krankheit sein? Nach außen hin gut drauf und innerlich vollkommen fertig? Ich verstehe das auch alles nicht.«
»Mir geht es genauso wie dir.«
»Selbstmord kommt häufig vor, das weiß jeder, und er geschieht oft überraschend für die Angehörigen, was man so liest. Aber was Cay getan hat, gehört doch wohl in eine andere Kategorie.«
»Erweiterter Suizid«, sagte ich, ohne mit den beiden Worten etwas anderes verbinden zu können als den gewaltsamen Tod meiner Tochter. Das war das Einzige, worüber ich die meiste Zeit nachdachte. Er hat sie getötet. Über die Hintergründe zermarterte ich mir den Kopf.
Gegen Abend war die Wohnung besenrein. Meine Familie und Freunde hatten ganze Arbeit geleistet. Ich schloss die Tür und übergab die Wohnungsschlüssel an die Vermieterin. Ich wollte nicht mehr zurückschauen, wollte nur noch weg aus Stuttgart. Weg aus diesem Leben.
Schlechte Presse
Mir ging es schlecht, doch es kam noch schlimmer. Die Zeitungsmeldung verfolgte mich, denn ein Lokalblatt aus meiner Heimatregion veröffentlichte eine leicht veränderte Version des Stuttgarter Artikels und verdrehte die Tatsachen ein weiteres Mal. Hier wurde ich zweifelsfrei als untreue und geldgierige Ehefrau dargestellt.
Ein verletzendes Wort kann scharf wie ein Schwert sein.
Jedes einzelne Wort aus dem Artikel nahm mir die Luft zum Atmen. Der Kloß in meinem Hals schnürte mir die Kehle immer weiter zu. Wenigstens war keines der Fotos abgedruckt worden. Aber trotzdem konnte sich jeder Leser aus unserer Region zusammenreimen, wer in diesem Artikel gemeint war. In Kleinstädten und auf dem Lande sprechen sich Geschichten über Mord und Selbstmord auch ohne Zeitungsmeldungen herum. Da muss nur ein Nachbar ein Polizeiauto sehen, Schreie hören, trauernde Angehörige sehen, und schon ist eine Geschichte im Umlauf. Hier nun wurden angebliche Fakten geliefert. Die untreue Ehefrau war schuld! Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken.
Der Klatsch der Leute dauert fünfundsiebzig Tage, heißt es. Doch wie sollte man eine solche Geschichte je vergessen, fragte ich mich.
Von nun an igelte ich mich fast vollständig ein. Zur Trauer um Sarah gesellten sich pure Verzweiflung und die Frage nach dem Sinn des Lebens. Gab es für mich überhaupt noch einen? Immer mehr Zweifel machten sich in mir breit und legten sich auf meinen Magen wie ein Wackerstein, hart und schmerzend.
Draußen war das Land noch immer im WM -Fieber, aber ich wollte mit der Welt nichts mehr zu tun haben. Nur ein einziges Mal schaffte Robert es, mich zu einem gemeinsamen Gang in die Stadt
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