Am Ende zählt nur das Leben
andere Therapeutin. Vielleicht sollten Sie es in einem Klinikum versuchen. Dort werden Sie bessere Hilfe finden.«
Stand es denn so schlimm um mich? Ich raffte mich ein weiteres Mal auf und bemühte mich um einen Kontakt zu einer Klinik. Dort wurde ich an eine Abteilung verwiesen, in der Spezialisten für vergleichbare Fälle wie meinen arbeiteten. Zunächst scheute ich mich vor einem Besuch in dem Hospital, aber dann dachte ich an Robert und unsere Beziehung. Er hatte vollkommen recht! So konnte es nicht weitergehen! Ich wollte leben! Und sogar mehr als das: Ich wollte wieder glücklich sein. Ich war sechsundzwanzig Jahre alt und durfte nicht den Rest meines Lebens trauern.
Bei meinem ersten Besuch war ich schockiert. In der Psychiatrischen Ambulanz traf ich auf Patienten, die offensichtlich nicht mehr im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte waren. Manche nahmen sicher starke Medikamente, wie ich an ihren Gesten und Blicken bemerkte. Gehörte ich hierher? Manch Außenstehender hätte diese Menschen als Verrückte bezeichnet. Was hatte ich mit diesen Leuten zu tun? Was hatte ich hier nur verloren? Am liebsten wäre ich davongerannt.
Doch sobald ich im Sprechzimmer der Therapeutin saß, bekam ich ein besseres Gefühl. Im Gegensatz zum Behandlungszimmer meiner ersten Therapeutin zeigte dieser Raum zwar kaum Schmuck und Behaglichkeit, sondern erinnerte eher an ein Arztzimmer in schlichtem Weiß. Aber die Therapeutin, Frau Precht, sorgte mit ihrer Art für eine angenehme Atmosphäre. Sie war offen, warmherzig und hielt Blickkontakt zu mir. Nachdem sie sich vorgestellt hatte, wusste ich gleich, dass ich es mit einer ausgebildeten Medizinerin zu tun hatte. Ihre Fragen an mich waren klar und deutlich, und so machte mir das Erzählen wenig Mühe. Ich bekam sogar das Gefühl, es tue mir gut.
Nach Ablauf der ersten Stunde überraschte sie mich.
»Ich habe Ihre Geschichte über die Presse und über Erzählungen mitbekommen. Sie wissen selbst, wie es bei uns auf dem Lande zugeht: Man spricht über so etwas. Und ich kannte Ihren Mann sogar. Zwar hatte ich nie direkt etwas mit ihm zu tun, aber wir sind auf die gleiche Schule gegangen. Ich erinnere mich gut an ihn. Seine Schwester kenne ich etwas besser. Das sollten Sie wissen, bevor Sie sich für eine Therapie bei mir entscheiden. Wenn Ihnen das zu viel Nähe zu ihm und zu Ihrer Geschichte ist, dann können wir nach einer anderen Therapeutin für Sie suchen. Hier in der Klinik haben wir einen kleinen Stab ausgebildeter Fachkräfte.«
Frau Precht war mir sympathisch und wirkte vertrauenswürdig, und ich empfand es sogar als Vorteil, ihr nicht die ganze Geschichte in allen Einzelheiten erzählen zu müssen. Und noch besser gefiel mir, dass sie Cays Familie ein wenig kannte. So hatte sie sich hoffentlich längst ein eigenes Bild gemacht und hielt meine Schilderungen über Cays familiären Hintergrund nicht für vollkommen verrückt.
»Ich finde es gut, dass Sie das Umfeld meines … äh, also … das Umfeld von Cay kennen. Ich möchte gern eine Therapie bei Ihnen machen.«
»Gut, das freut mich sehr.«
»Frau Precht, sagen Sie mir ganz ehrlich: Hätte ich vorher etwas merken müssen? Hätte ich spüren müssen, dass er etwas so Wahnsinniges plante?«, fragte ich sie beim Hinausgehen unvermittelt. Dieses Thema brannte mir derart unter den Nägeln, dass ich nicht länger warten konnte. Vielleicht hatte sie eine Antwort für mich. Vielleicht bekam ich hier und jetzt einen Hinweis, der mir ein wenig Klarheit verschaffte und Last von den Schultern nahm.
»Wir werden über alles sprechen. Es geht darum, Ihnen zu helfen, dass Sie das Geschehene verarbeiten. Und dabei werden wir ganz sicher auch an Ihren quälenden Schuldgefühlen arbeiten. Es ist sehr gut, dass Sie offenbar in einem stabilen Umfeld leben. Das wird die Therapie erleichtern und unterstützen. Aber trotzdem braucht alles eine gewisse Zeit.«
Quälende Schuldgefühle. Das hatte sie treffend ausgedrückt. Frau Precht machte auf mich den Eindruck, als sei ich nicht ihre erste Patientin mit derartigen Problemen. Ich war traumatisiert! Daran gab es nun keinen Zweifel mehr.
Etwas über ein Jahr nachdem die Tragödie über mich hereingebrochen war, besuchte ich nun also eine ambulante Traumatherapie. Wir verabredeten einen vierzehntägigen Rhythmus, in dem ich in die Klinik kam.
Allein schon die wenigen Sätze der ersten Stunde arbeiteten in mir und gaben mir ausreichend Stoff zum Nachdenken für die nächsten zwei
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