Am ersten Tag - Roman
verärgert, die den Rest des Abends über schmollte und mir später das Sofa im Wohnzimmer als Bett anbot.
Am nächsten Morgen fuhren wir mit der Metro zum Boulevard Sébastopol. Die Architektur der Fabrikgebäude aus der Zeit Eiffels mit ihren Balken aus den Stahlwerken Lothringens hat mich immer schon begeistert. Die Druckerei von diesem Max lag in einer Seitenstraße. »Der Freund« empfing uns sehr freundlich und bat uns in sein Büro im Zwischengeschoss.
Max beugte sich über unser Dokument, griff nach Notizblock und Bleistift und machte sich mit einer Leichtigkeit an die Arbeit, die mich faszinierte. Ein Musiker, hätte man meinen können, der eine Partitur entzifferte und sie gleich darauf spielte.
»Diese Übersetzung steckt voller Fehler. Ich will nicht sagen, dass meine perfekt sein wird. Ich brauche auch etwas Zeit, aber ich sehe auf den ersten Blick unverzeihliche Schnitzer. Seht her«, sagte er, »ich zeige es euch.«
Er tippte mit dem Bleistift auf die Worte, deren Übertragung ins Griechische er für falsch hielt.
»Es geht hier nicht um ›Weise‹, sondern um ›Magistrate‹. Das Wort ›Überfluss‹ ist ein Interpretationsfehler, man muss lesen ›Unendlichkeit‹. Überfluss und Unendlichkeit können einen ähnlichen Sinn haben, doch in diesem Fall ist Letzteres zu gebrauchen. Etwas weiter unten muss es nicht ›Mensch‹ heißen, sondern ›niemand‹.«
Er schob seine Lesebrille auf die Nasenspitze. Sollte ich irgendwann mal eine brauchen, muss ich unbedingt daran denken, diese Geste zu vermeiden, es ist unglaublich, wie alt
einen so was plötzlich macht. Wenn mich Max’ Wissen auch beeindruckte, missfiel mir doch die Art, wie er Keira ansah. Ich hatte den Eindruck, der Einzige zu sein, der es bemerkte. Sie tat, als wäre nichts, und das ärgerte mich noch mehr.
»Ich denke, es gibt auch Konjugationsfehler, und ich bin nicht sicher, ob die Anordnung der Sätze so stimmt, das würde natürlich die Deutung des ganzen Textes verändern. Was ich jetzt hier mache, ist nur ein Präludium, aber seht nur ›Im sternenklaren Gedrittschein‹ steht nicht an der richtigen Stelle, man muss die Wörter umstellen und mit dem Satz verbinden, zu dem sie gehören.« Max riss das Blatt von seinem Notizblock und reichte es uns. Keira und ich beugten uns über den Text und lasen:
Ich habe die Tafel der Erinnerungen getrennt und ihre einzelnen Teile den Magistraten der Kolonien anvertraut.
Mögen unter dem sternenklaren Gedrittschein die Schatten der Unendlichkeit versiegelt bleiben. Möge niemand erfahren, wo das Apogäum sich befindet, die Nacht des einen wacht über den Ursprung. Möge niemand ihn erwecken, denn bei einer Vereinigung der imaginären Zeit zeichnet sich das Ende des Zeitraums ab.
»So gesehen ist die Sache natürlich sehr viel klarer.«
Meine spitze Bemerkung konnte Max kein Lächeln entlocken, Keira aber belustigte sie.
»Bei so alten Schriften ist die Deutung jedes einzelnen Wortes ebenso wichtig wie die Übersetzung.«
Max erhob sich, um das Dokument zu fotokopieren, und versprach, sich am Wochenende damit zu beschäftigen. Er erkundigte sich, wo er Keira erreichen könne, und sie gab ihm Jeannes Nummer. Max wollte wissen, wie lange sie in Paris
bliebe, sie antwortete ihm, sie wisse es nicht. Ich hatte das unangenehme Gefühl, unsichtbar zu sein. Glücklicherweise rief ein Angestellter Max, weil es ein Problem mit einer der Druckmaschinen gab. Ich nutzte die Gelegenheit, um zu erklären, wir hätten seine Hilfsbereitschaft bereits überstrapaziert und es sei an der Zeit, ihn wieder an seine Arbeit zu lassen. Max begleitete uns zum Ausgang.
An der Tür fragte er: »Warum interessiert dich der Text? Hat er etwas mit deinen äthiopischen Ausgrabungen zu tun?«
Keira warf mir einen Seitenblick zu und log, ein Dorfältester habe ihn ihr gegeben. Als er mich fragte, ob ich das Omo-Tal ebenso sehr lieben würde, erklärte Keira ohne Skrupel, ich sei einer ihrer besten Mitarbeiter.
Wir gingen in einer Brasserie im Marais-Viertel Kaffee trinken. Keira hatte kein Wort gesagt, seit wir Max verlassen hatten.
»Für einen Druckereibesitzer kennt er sich aber ganz gut aus.«
»Max war mein Archäologieprofessor, er hat den Beruf gewechselt.«
»Warum?«
»Bürgerliche Erziehung, er hat keine Freude an Abenteuern vor Ort, und nach dem Tod seines Vaters hat er den Familienbetrieb übernommen.«
»Wart ihr lange zusammen?«
»Wer sagt dir, dass wir zusammen waren?«
»Ich weiß,
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