Am ersten Tag - Roman
an, ohne ihr zu sagen, dass wir schon auf dem Weg zu ihr waren. Doch nachdem wir vor dem Museum aus dem Taxi gestiegen waren, telefonierte sie von ihrem Handy aus noch einmal mit ihr und bat sie, ans Fenster zu treten und nachzusehen, ob sie die Person erkennen würde, die ihr vom Garten aus zuwinkte. Noch ehe sie das ausgesprochen hatte, war Jeanne unten und setzte sich an unseren Tisch. Sie umarmte ihre Schwester so heftig, dass ich dachte, Keira müsste ersticken. In diesem Augenblick wünschte ich mir, auch einen Bruder zu haben, dem ich eine ähnliche Überraschung hätte bereiten können. Einen kurzen Moment lang dachte ich an Walter und an unsere wachsende Freundschaft.
Jeanne musterte mich von Kopf bis Fuß, bevor sie mich begrüßte. Sie fragte mich neugierig, ob ich Engländer sei. Mein Akzent ließ keinen Zweifel zu, doch aus Höflichkeit fühlte ich mich verpflichtet, ihre Vermutung zu bestätigen.
»Sie sind also ein Engländer aus England?«, erkundigte sie sich.
»So ist es«, antwortete ich vorsichtig.
Jeanne errötete fast.
»Ich meine, ein Engländer aus London?«
»Absolut.«
»Ich verstehe«, sagte Jeanne.
Ich verkniff mir die Frage, was sie darunter verstand und warum meine Antwort sie zum Lächeln brachte.
»Ich habe mich gefragt, was Keira wohl aus ihrem verdammten Tal locken könnte«, sagte sie, »und jetzt verstehe ich es besser.«
Keira bedachte mich mit einem vernichtenden Blick. Ich wollte die beiden allein lassen, weil sie sich bestimmt viel zu erzählen hätten, doch Jeanne bestand darauf, dass ich blieb. Wir verbrachten eine gute Stunde zusammen, und Jeanne stellte mir dauernd Fragen über meinen Beruf und mein Leben ganz allgemein. Es war mir fast peinlich, dass sie sich mehr für mich als für ihre Schwester zu interessieren schien, und merkte, wie sich Keiras Miene zusehends verfinsterte.
»Wenn ich störe, kann ich euch allein lassen und um Weihnachten herum mal wieder vorbeikommen«, sagte sie, als Jeanne, aus ich weiß nicht welchem Grund, wissen wollte, ob ich Keira zum Grab ihres Vaters begleitet hätte.
»Dazu sind wir noch nicht intim genug«, antwortete ich, um Keira ein wenig zu necken.
Jeanne hoffte, wir würden die ganze Woche bleiben, und schmiedete bereits Pläne für ein Abendessen am Wochenende. Keira gestand ihr, dass wir nur für einen, höchstens zwei Tage da wären. Als sie fragte, wohin wir führen, tauschten Keira und ich einen verwirrten Blick. Wir hatten keine Ahnung. Jeanne lud uns zu sich ein.
Während des Essens gelang es Keira, jenen Mann anzurufen, der uns vielleicht mit dem Text, den wir in Frankfurt gefunden hatten, weiterhelfen könnte. Sie machte einen Termin für den nächsten Vormittag aus.
»Ich glaube, es ist besser, wenn ich alleine hingehe«, meinte Keira, als sie ins Wohnzimmer zurückkam.
»Wohin denn?«, wollte Jeanne wissen.
»Einen ihrer Freunde besuchen, einen Archäologenkollegen, wenn ich recht verstanden habe. Wir brauchen seine Hilfe, um einen in einer alten afrikanischen Sprache verfassten Text zu verstehen.«
»Welchen Freund?«, beharrte Jeanne, die neugieriger zu sein schien als ich.
Statt zu antworten, schlug Keira vor, die Käseplatte zu holen, und damit kam der Augenblick des Essens, den ich am meisten fürchtete, denn der Camembert ist und bleibt für einen Engländer eine Herausforderung.
»Du willst dich doch wohl nicht mit Max treffen?«, rief Jeanne so laut, dass Keira sie in der Küche hören konnte.
Keira antwortete nichts.
»Wenn du einen Text auswerten willst, haben wir im Museum alle möglichen Spezialisten dafür«, fuhr Jeanne in derselben Lautstärke fort.
»Kümmer dich um deine Angelegenheiten, große Schwester«, meinte Keira, als sie ins Wohnzimmer zurückkam.
»Wer ist dieser Max?«
»Ein Freund, den Jeanne sehr gerne mag!«
»Wenn Max nur ein Freund ist, dann bin ich eine Nonne«, erwiderte Jeanne.
»Es gibt Augenblicke, da kommen mir Zweifel«, sagte Keira spöttisch.
»Wenn Max nur ein Freund ist, dann freut er sich bestimmt, Adrian kennenzulernen. Freunde von Freunden sind schließlich Freunde, stimmt’s?«
»Jeanne, irgendwas scheinst du an der Redewendung ›kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten‹ nicht verstanden zu haben.«
Das war für mich der geeignete Augenblick zu erklären,
dass ich Keira am nächsten Morgen zu dem Termin begleiten würde. Damit war es mir zwar gelungen, den Streit zwischen den beiden Schwestern beizulegen, doch ich hatte auch Keira
Weitere Kostenlose Bücher