Am ersten Tag - Roman
nur, weil es eine meiner schönsten Erinnerungen ist, sondern weil ich vergeblich zu verstehen versuchte, was eine solche Gefühlswallung bei Keira ausgelöst hatte. Ich habe mich später sogar getraut, sie zu fragen, erhielt als Antwort aber nur ein Lächeln. Und damit habe ich mich schließlich auch zufriedengegeben. So kann ich mir diese Frage immer wieder stellen und diesen Kuss am Spätnachmittag in Ashford noch einmal erleben.
Paris
Ivory bewegte den Läufer auf dem marmornen Schachbrett, das in seinem Salon stand. Er besaß auch mehrere sehr alte Exemplare. Das Prachtstück seiner Sammlung aber befand sich in seinem Schlafzimmer: ein elfenbeinfarbenes persisches Brett aus dem sechsten Jahrhundert. Es handelt sich um ein indisches Spiel mit vier Königen, das Chaturanga, ein Vorgänger der Schachkunst. Ein quadratisches Brett mit acht mal acht Feldern, dessen vierundsechzig Rechtecke den Lauf der Zeit und der Jahrhunderte erklären sollten. Die schwarz-weiße Farbe der Spielfelder wurde erst später eingeführt. Inder, Perser und Araber spielten auf einfarbigem Untergrund, auf einem Raster, das manchmal direkt auf den Boden gezeichnet wurde. Ehe es zu einem weltlichen Spiel wurde, diente das Diagramm des Schachbretts im vedischen Indien als Plan zur Anlage von Tempeln und heiligen Stätten. Es symbolisierte die kosmische Ordnung, und die vier zentralen Felder entsprachen dem Schöpfergott.
Das Geräusch des Faxgerätes riss Ivory aus seiner Träumerei. Er ging zu seinem Regal, in dem der Apparat stand, und griff nach dem Blatt, das gerade herausgekommen war. Ein in einer sehr alten afrikanischen Sprache verfasster Text, gefolgt von der Übersetzung. Der Autor bat ihn um einen Rückruf, sobald er das Papier erhalten hätte, was Ivory auf der Stelle tat.
»Sie war heute bei mir«, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung.
»War sie allein?«
»Nein, in Begleitung eines englischen Schönlings. Haben Sie sich das Dokument schon angesehen?«
»Ich bin gerade dabei. Haben Sie die Übersetzung selbst angefertigt?«
»Ja, so gut, wie es in der kurzen Zeit ging.«
»Keine schlechte Arbeit. Sie können davon ausgehen, dass Ihre finanziellen Probleme der Vergangenheit angehören.«
»Darf ich Sie fragen, warum Sie sich so sehr für Keira interessieren und warum der Text so wichtig ist?«
»Nicht wenn Sie das versprochene Geld morgen früh auf dem Konto Ihrer Druckerei sehen wollen.«
»Ich habe vorhin versucht, sie zu erreichen. Bevor ihre Schwester wütend aufgelegt hat, habe ich erfahren, dass Keira nach London gereist ist. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, Monsieur ?«
»Mich, wie vereinbart, informieren, wenn sie wieder Kontakt mit Ihnen aufnimmt.«
Nachdem das Gespräch beendet war, nahm Ivory wieder im Salon Platz. Er setzte seine Brille auf und machte sich daran, die Übersetzung nun seinerseits zu überarbeiten. Schon in der ersten Zeile nahm er einige Korrekturen vor.
London
Die Vorstellung, einige Tage bei mir zu Hause zu verbringen, war mir alles andere als unangenehm. Nachdem Keira geduscht hatte, ging sie in den Straßen von Primrose Hill spazieren. Ich rief Walter an, sobald ich allein war.
»Eines sage ich Ihnen gleich, Adrian, ich habe mein Bestes getan. Und ich muss Sie informieren, dass man einen Ge’ezÜbersetzer weder auf dem Pimlico noch auf dem Camden Markt findet und - das habe ich überprüft - nicht einmal in den Gelben Seiten des Telefonbuchs.«
Ich hielt den Atem an, die Vorstellung, Keira gestehen zu müssen, dass ich geblufft hatte, nur um sie von diesem Max zu entfernen, behagte mir gar nicht.
»Habe ich Ihnen schon gesagt, dass Sie wirklich Glück haben, einen Freund wie mich zu kennen, Adrian? Es ist mir gelungen, einen äußerst qualifizierten Menschen zu finden, der Ihnen sicher weiterhelfen kann. Ich bin von einem Scharfsinn, der mich selbst erstaunt. Stellen Sie sich vor, ich habe mit einer Freundin über Ihr Problem gesprochen, und eine Verwandte von ihr geht jeden Sonntag in die orthodoxe äthiopische Kirche Saint Mary of Debre Tsion. Diese Frau hat sich an einen Geistlichen gewandt, einen heiligen Mann von enormer Gelehrtheit. Und der Pater ist nicht nur ein Mann Gottes, er ist auch Historiker und ein großer Philosoph. Er hat vor zwanzig Jahren politisches Asyl in England gefunden und gilt als einer der anerkanntesten Spezialisten für das Thema, das Sie interessiert.
Ich habe einen Termin für morgen früh ausgemacht. Und jetzt dürfen Sie sagen:
Weitere Kostenlose Bücher