Am ersten Tag - Roman
Sie als Archäologin, dass der Mensch das Feuer entdeckt hat oder vielmehr dass es sich ihm erschlossen hat, als die Zeit reif dafür war?«
»Ich denke, irgendwann hat seine sich entwickelnde Intelligenz den Menschen befähigt, das Feuer zu beherrschen.«
»Würden Sie das Vorsehung nennen?«
»Wenn ich an Gott glauben würde, vermutlich.«
»Sie glauben nicht an Gott, aber Sie wenden sich an einen Mann Gottes, um das Geheimnis zu ergründen, dessen Tragweite Sie nicht zu erfassen vermögen. Bitte bedenken Sie, wie
paradox das ist, und erinnern Sie sich daran, wenn der Augenblick gekommen ist.«
»Welcher Augenblick?«
»Der Augenblick, an dem Sie begreifen werden, wohin dieser Weg führt, denn davon wissen Sie beide jetzt noch nichts. Würden Sie ihn sonst überhaupt beschreiten wollen? Ich bezweifele es.«
»Pater, ich verstehe nicht, wovon Sie sprechen. Können Sie uns die Bedeutung dieses Textes erklären?«, wagte ich mich vor.
»Sie haben meine Frage noch immer nicht beantwortet, Herr Astrophysiker: Was wissen Sie vom Universum?«
»Er weiß sehr viel, das kann ich Ihnen versichern«, antwortete Walter an meiner Stelle. »Ich war für einige Wochen sein Schüler, und Sie können sich nicht vorstellen, welche Menge an Kenntnissen ich habe aufnehmen müssen - unmöglich, alles zu behalten.«
»Zahlen, Namen von Sternen, Positionen, Entfernungen, Bewegungen, all das sind nur Feststellungen. Sie und Ihre Kollegen vermuten etwas, aber haben Sie es begriffen? Können Sie mir sagen, was das unendlich Größte und das unendlich Kleinste ist? Kennen Sie den Ursprung, ahnen Sie das Ende? Vermögen Sie einem sechsjährigen Kind zu erklären, was die Intelligenz ist, von der Ihre Freundin gesprochen hat? Jene, die es dem Menschen ermöglicht hat, das Feuer zu beherrschen?«
»Warum einem sechsjährigen Kind?«
»Wenn Sie nicht in der Lage sind, einem Sechsjährigen einen Begriff zu erklären, dann haben Sie seinen Sinn selbst nicht verstanden!«
Der Priester hatte zum ersten Mal die Stimme gehoben, sodass sie im Kirchenschiff widerhallte.
»Auf dieser Erde sind wir alle sechsjährige Kinder«, fuhr er dann ruhiger fort.
»Nein, ich kann keine dieser Fragen beantworten, Pater, das kann niemand.«
»Noch nicht. Aber angenommen, Ihnen beiden würden diese Antworten gegeben, wären Sie überhaupt bereit, sie zu hören?«
Bei diesen Worten seufzte der Mann, so als überkäme ihn ein plötzlicher Kummer.
»Ich soll Ihren Weg erhellen. Es gibt nur zwei Arten und Weisen zu verstehen, was das Licht ist, zwei Arten und Weisen, sich ihm zu nähern. Doch der Mensch kennt nur eine. Darum ist Gott so wichtig für ihn. Auf die Frage eines sechsjährigen Kindes, was Intelligenz ist, hätten Sie antworten können: Liebe. Das ist eine Dimension, deren Ausmaß Ihnen noch lange nicht klar ist. Wenn Sie jene Grenze tatsächlich überschreiten, gibt es kein Zurück mehr. Wenn Sie erst wissen, ist es zu spät, Verzicht zu üben. Darum stelle ich Ihnen noch einmal meine Frage. Sind sie bereit, die Grenzen Ihrer eigenen Intelligenz zu überschreiten? Wollen Sie das Risiko eingehen, Ihr Menschsein hinter sich zu lassen, wie man die Kindheit hinter sich lässt? Begreifen Sie, dass den Vater zu sehen, nicht bedeutet, ihn zu kennen. Würden Sie akzeptieren, die Waisen dessen zu sein, der Sie zu diesem Menschsein erzogen hat?«
Weder Keira noch ich antworteten diesem eigentümlichen Mann. Gerne hätte ich begriffen, was seine Weisheit uns zu enthüllen versuchte, erraten, vor was er uns bewahren wollte. Hätte ich es nur verstanden!
»Ich zeige Ihnen, wie man diese Schrift lesen muss«, sagte er.
Das Fenster barst, und ein winziges kaum neun Millimeter großes Loch entstand. Das Geschoss flog mit einer Geschwindigkeit von tausend Metern pro Sekunde durch das Kirchenschiff. Die Kugel drang in die Kehle des Priesters, durchtrennte die Drosselvene und wurde vom zweiten Halswirbel gestoppt.
Er öffnete den Mund, rang nach Luft und brach auf der Stelle zusammen.
Wir hatten weder einen Schuss gehört noch das Splittern des Glases. Wäre nicht Blut aus dem Mund des alten Paters gequollen und an seinem Hals hinabgeronnen, so hätten wir geglaubt, es handele sich um einen einfachen Schwächeanfall. Keira sprang zurück, Walter drückte sie herunter und zog sie in gebückter Haltung zur Eingangstür der Kirche.
Der Pater lag mit dem Gesicht zum Boden, seine Hand zitterte, und ich blieb regungslos stehen, wie gelähmt angesichts des
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