Am ersten Tag - Roman
hörten wir einen Star. Der Vogel schien seinen Gesang dem Rhythmus unseres Atems anzupassen. Jedes Mal, wenn er verstummte, setzte Keiras Atem kurz aus, sie löste sich
aus meiner Umarmung und stieß meinen Körper von sich, um sich gleich wieder an ihn zu klammern.
Diese Nacht, dieser Augenblick der Leidenschaft, in dem wir den Tod vertrieben, ist mir noch heute in lebhafter Erinnerung, und ich wusste schon damals, dass ich bei keiner anderen Frau Ähnliches empfinden würde, und das machte mir Angst.
Auf der ruhigen Straße wurde es hell, Keira trat ans Fenster.
»Wir sollten London verlassen«, sagte sie.
»Und wo willst du hin?«
»Dahin, wo sich das Land ins Meer stürzt, am Ende von Cornwall, kennst du St. Mawes?«
Ich war nie dort gewesen.
»Heute Nacht im Schlaf hast du komische Dinge gesagt«, fuhr sie fort.
»Ich habe von den letzten Worten des Priesters geträumt, die er gesagt hat, ehe er von uns gegangen ist.«
»Er ist nicht von uns gegangen, er ist tot! Und mein Vater hat auch keine ›lange Reise angetreten‹, wie der Priester bei seiner Beerdigung gesagt hat. Sterben ist das richtige Wort, denn er ist nirgendwo anders als in seinem Grab.«
»Als Kind glaubte ich, jeder Stern wäre eine Seele, die am Himmel leuchtet.«
»Wenn das seit grauer Vorzeit so gewesen wäre, müsste es ja eine ganze Menge Sterne am Himmel geben.«
»Es gibt Hunderte von Milliarden, viel mehr, als unser Planet je an Einwohnern gezählt hat.«
»Na dann, wer weiß? Aber ich glaube, ich würde mich ganz schön langweilen, wenn ich im kalten Universum funkeln müsste.«
»Das ist eine Art, die Dinge zu sehen. Ich weiß nicht, was uns danach erwartet, doch ich denke auch nicht oft daran.«
»Ich ständig. Das muss mit meinem Beruf zusammenhängen. Jedes Mal, wenn ich Knochen ausgrabe, stelle ich mir diese Frage. Ich habe Mühe zu akzeptieren, dass das Einzige, was von meinem Leben übrig bleibt, eine Hüftpfanne oder ein Backenzahn sein soll.«
»Es bleiben nicht nur unsere Knochen zurück, Keira, sondern die Erinnerung der anderen. Immer, wenn ich an meinen Vater denke, wenn ich von ihm träume, entreiße ich ihn dem Tod, so als würde man jemanden aus dem Schlaf aufwecken.«
»Dann muss es dem meinen allmählich reichen«, erklärte Keira, »ich lasse ihn nicht oft in Ruhe.«
Da Keira nach Cornwall wollte, schlichen wir uns leise aus dem Haus. Wir hinterließen Walter, der im Wohnzimmer tief und fest schlief, einen Zettel und versprachen, bald zurückzukommen. Mein alter Wagen, der in der Garage wartete, sprang sofort an. Mittags fuhren wir mit weit geöffneten Fenstern durch die englische Landschaft. Keira sang lauthals, und es gelang ihr sogar, das Heulen des Windes zu übertönen.
Dreizehn Kilometer vor Salisbury sahen wir die Megalithen von Stonehenge, deren mächtige Masse sich gegen den Horizont abzeichnete.
»Warst du schon einmal dort?«, fragte ich Keira.
»Und du?«
Ich habe Freunde in Paris, die noch nie auf dem Eiffelturm waren, und andere in New York, die das Empire State Building noch nicht besucht haben. Ich bin Engländer und gestand, niemals diese berühmte Stätte besichtigt zu haben, zu der Touristen aus aller Welt strömen.
»Wenn es dich beruhigt, ich kenne es auch nicht«, erklärte Keira. »Sollen wir anhalten?«
Ich wusste, dass der Zutritt zu der über viertausend Jahre alten
Anlage streng geregelt war. Während der Öffnungszeiten laufen die Besucher, geleitet von den Trillerpfeifen ihrer Reiseführer, über abgesteckte Wege, von denen sie sich unter keinen Umständen entfernen dürfen. Und ich bezweifelte, dass wir selbst gegen Ende des Tages einfach so dort herumspazieren dürften.
»Du hast es ja gerade selbst gesagt, es wird bald dunkel. In einer Stunde geht die Sonne unter, und weit und breit ist kein Mensch zu sehen«, erklärte Keira, die das Verbot mehr zu reizen schien als alles andere.
Nach den dramatischen Ereignissen, die wir am Vortag durchleben mussten, hatten wir doch wohl ein Recht auf etwas Zerstreuung. Schließlich wird nicht jeden Tag auf einen geschossen. Also bog ich in den kleinen Weg, der zu der Anhöhe mit den Megalithen führt. Er endete vor einem Stacheldrahtzaun. Ich schaltete den Motor aus, Keira sprang aus dem Wagen und lief zu dem verlassenen Parkplatz.
»Komm, hier kann man gut durch, ein Kinderspiel!«, rief sie vergnügt.
Wir brauchten uns nur zu bücken, um unter dem Zaun durchzukriechen. Ich fragte mich, ob eine Alarmanlage unser
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