Am ersten Tag - Roman
Eindringen melden würde, doch ich konnte nichts dergleichen und auch keine Überwachungskameras entdecken. Es war ohnehin zu spät, denn Keira erwartete mich bereits auf der anderen Seite.
Die Stätte war eindrucksvoller, als ich mir vorgestellt hatte. Die äußere Dolmenreihe bildete einen Kreis mit einem Durchmesser von einhundertzehn Metern. Durch welche Wunder hatten die Menschen etwas so Gigantisches bauen können? Um uns herum erstreckte sich eine glatte Ebene ohne die geringsten Felsen. Jeder Pfeilerstein des äußeren Kreises musste mehrere Dutzend Tonnen schwer sein. Wie hatte man sie hierher transportieren und aufrichten können?
»Der zweite Kreis hat einen Durchmesser von achtundneunzig Metern«, erklärte Keira. »Er wurde in regelmäßigen Abständen angelegt, was für jene Zeit recht ungewöhnlich war. Der dritte Kreis besteht aus sechsundfünfzig Aushöhlungen, die man als Aubrey-Löcher bezeichnet, sie sind vollkommen regelmäßig angeordnet. Darin hat man Holzkohle und kalzinierte Knochen gefunden. Vermutlich wurden sie für die Feuerbestattung benutzt. Eine Art Grabeinzäunung.«
Ich sah Keira verblüfft an.
»Woher weißt du das alles?«
»Ich bin Archäologin, keine Milchfrau, ansonsten hätte ich dir erklärt, wie man aus Milch Käse macht.«
»Und dein Wissen umfasst alle archäologischen Stätten der Welt?«
»Ich bitte dich, Adrian, Stonehenge, das lernt man doch in der Schule!«
»Erinnerst du dich an alles, was du in der Schule gelernt hast?«
»Nein, aber an das, was ich gerade auf der kleinen Tafel hinter mir gelesen habe. Ich habe dich auf den Arm genommen …«
Auf dem Weg zur Mitte der Anlage durchschritten wir den äußeren Kreis aus Blausteinen. Später erfuhr ich, dass er ursprünglich aus fünfundsiebzig Basaltstein-Megalithen bestand, der größte musste an die fünfzig Tonnen gewogen haben. Die Dolmen waren mit einem Deckstein versehen, doch wie hatte man die Orthostaten aufgerichtet und diesen hinaufbefördert? Schweigend betrachteten wir das Wunderwerk. Die Sonne ging langsam unter, die Strahlen wurden länger und fielen durch die Portale. Und plötzlich funkelte der einzige liegende Dolmen im Zentrum kurz auf, der Glanz war unvergleichlich.
»Manche glauben, Stonehenge wäre von den Druiden erbaut worden.«
Ich erinnerte mich, in populärwissenschaftlichen Zeitschriften verschiedene Artikel darüber gelesen zu haben. Stonehenge hatte die Neugier vieler Geister geweckt, und die unterschiedlichsten Theorien - teils logisch, teils verrückt anmutend - waren aufgestellt worden. Doch was war die Wahrheit? Zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts, also fast viertausendachthundert Jahre nach der Fertigstellung der ersten Gräben, wusste noch niemand den Sinn dieser Stätte zu erklären: Warum hatten sich die Menschen, die vor mehr als viertausend Jahren hier gelebt hatten, so viel Mühe mit der Erbauung gemacht? Wie viele hatten ihr Leben dafür lassen müssen?
»Einige gehen davon aus, dass die Steine nach astronomischen Gesichtspunkten ausgerichtet sind. Ihre Anordnung soll die Festlegung der Sommer- und Wintersonnenwende ermöglichen.«
»Wie die Himmelsscheibe von Nebra?«, fragte Keira.
»Ja genau«, antwortete ich nachdenklich, »nur größer.«
Sie blickte forschend zum Himmel, doch an diesem Abend gab es keine Sterne, eine dicke Wolkendecke verhüllte den Horizont. Plötzlich wandte sie sich zu mir um.
»Kannst du die letzten Worte des Priesters wiederholen?«
»Gerade fing ich an, die Sache zu vergessen. Bist du sicher, dass du wieder daran rühren willst?«
Sie hätte mir gar nicht antworten müssen, die Entschlossenheit stand ihr, wie so oft, ins Gesicht geschrieben.
»Er hat von versteckten Pyramiden gesprochen und von einem anderen Text, von jemandem, den wir ruhen lassen sollten … sofern wir verstehen würden. Aber was er mit ›verstehen‹ gemeint hat, weiß ich nicht.«
»Dreieck und Pyramide, da gibt es doch eine Ähnlichkeit, oder?«, fragte Keira.
»In geometrischer Hinsicht schon.«
»Sagt man nicht auch, die Pyramiden wären mit den Sternen verbunden?«
»Was die Maya-Pyramiden betrifft, ja. Man spricht vom Mond- und vom Sonnentempel. Du bist die Archäologin, das solltest du besser wissen als ich.«
»Aber die Maya-Pyramiden sind nicht versteckt«, fuhr sie nachdenklich fort.
»Es gibt viele archäologische Stätten, denen man zu Recht oder zu Unrecht eine astronomische Funktion zuschreibt. Vielleicht war Stonehenge eine
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